Militäroffensive im Westjordanland hinterlässt Tod und Trümmer

Nur Verlierer in Dschenin

Dschenin ‐ Die israelische Militäraktion in Dschenin war eine der größten in den besetzten Gebieten seit langem. Sie endete mit Tod und Verwüstung – und Siegesmeldungen beider Seiten. Klar scheint: Die Gewalt wird weitergehen.

Erstellt: 07.07.2023
Aktualisiert: 07.07.2023
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Von Andrea Krogmann (KNA)

Knappe 45 Stunden dauerte die israelische Militäraktion auf das palästinensische Flüchtlingslager Dschenin, aus Sicht Israels eine terroristische Hochburg. Dann zogen die Israelis ihre rund 1.000 Soldaten wieder ab. Die Bilanz einer der größten israelischen Offensiven in den besetzten Gebieten seit Jahrzehnten: ein getöteter israelischer Soldat, zwölf getötete Palästinenser, eine Spur der Verwüstung. Beide Seiten reklamieren den Sieg. Verlierer ist die Zivilbevölkerung. Zwischen 15.000 und 20.000 Menschen leben je nach Schätzungen auf engstem Raum in dem Lager, ein Drittel bis die Hälfte der Bewohner der Stadt.

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„Seit sieben Uhr putze ich die Wohnung“, sagt Alia al-Bali. Die gröbsten Spuren der Kämpfe hat die Palästinenserin beseitigt. Das Wasser dafür muss sie in Kanistern holen. Die Bulldozer, mit denen die Armee aus Angst vor Sprengfallen die Straßen umgegraben hat, haben auch Strom-, Wasser- und Abwasserleitungen zerstört. Mehr noch als die tote Wasserleitung macht Alia al-Bali der anhaltende Stromausfall Sorge. Nicht vor dem Abend, vielleicht auch erst am nächsten Tag soll die Versorgung zurückkommen, vielleicht zu spät für den Gefrierschrank mit Fleisch, das al-Bali vom muslimischen Opferfest Ende Juni zurückbehalten hat.

Firas Badran ist Projektkoordinator für das regionale Caritas-Büro in Zebabdeh, das neben der Unterstützung von Kleinstunternehmen auf langfristige Entwicklungsprogramme für „sozialen Zusammenhalt und Widerstandsfähigkeit der ländlichen Gemeinden“ setzt. Immer wieder spürt das Hilfswerk die Auswirkungen israelischer Armeeaktionen in Dschenin auf seine Projekte, wenn etwa Aktivitäten wegen der Sicherheitslage eingestellt werden müssen. Gerade arbeitet Badran an einem Nothilfeplan für Dschenin. Neben Trinkwasser fehle es an Windeln, Babymilch, Medikamenten, Matratzen und Decken, so seine Lagebewertung.

Mit Löschfahrzeugen gegen den Ruß

Vor Ort hat unterdessen das Aufräumen begonnen. Bagger schieben Trümmer und verbrannte Autos an die Seite. Entlang von Häusern, deren Schäden auf längere Unbewohnbarkeit deuten, türmen sich kaputte Elektrogeräte. Mit Löschfahrzeugen kämpfen Arbeiter im Stadtzentrum gegen den Ruß auf den Straßen.

Ein Sprengsatz vor der lateinischen Erlöserkirche ließ die Fensterscheiben des Gotteshauses im Herzen von Dschenin platzen. Scharfer Brandgeruch zieht durch das rußgeschwärzte Treppenhaus. „In einem Konflikt, für den es keine Lösung gibt, muss man mit Gewalt rechnen“, sagt Pfarrer Labib Deibes. Er ist verantwortlich für die 150 Christen in Dschenin, „ausnahmslos Katholiken“. Nicht, dass das eine Rolle spiele, denn „wir Christen sind Palästinenser. Die Nationalität ist stärker als die Religion.“ Es sei Pflicht, „in diesen schwierigen Zeiten zu den Bewohnern des Lagers zu stehen“, auch wenn keine Christen dort wohnen. Ein Besuch des Lateinischen Patriarchen am Montag soll die christlich-muslimische Solidarität unter den Palästinensern unterstreichen.

Gewaltakteure sehen sich als Sieger

Israel wertete die Operation als Erfolg. Stützpunkte militanter Palästinenser seien gezielt angegriffen, Waffenproduktionsstätten zerstört worden, so die Armeebilanz. Man habe „mit außerordentlicher Präzision“ Terroreinrichtungen zerstört und dabei bestmöglich Zivilisten geschützt, erklärte Verteidigungsminister Joav Gallant. Dschenin sei kein „sicherer Hafen“ für Terroristen mehr, so auch Ministerpräsident Benjamin Netanjahu.

Ähnlich feierten radikale palästinensische Gruppen wie der „Islamische Dschihad“ und die Hamas den Abzug der Israelis als Sieg. Eine Einschätzung, die man in den Straßen von Dschenin teilt. In selbstsicherer Siegerpose zeigen sich Mitglieder militanter Gruppen im Camp, vermummt, bewaffnet. „Israel hat nichts erreicht und versucht, seine Gesellschaft mit Bildern der Zerstörung zu befriedigen“, sagt der künstlerische Direktor der palästinensischen Schauspielschule „Freedom Theatre“, Ahmed Tobasi. Für die Bewohner sei mit dem Abzug der Soldaten die Gefahr nicht vorbei. „Die nächsten Tage werden noch gefährlicher sein, wir werden kürzere israelische Invasionen auf spezifische Orte sehen.“

Helfer gehen von weiteren Toten aus

Schon jetzt ist davon auszugehen, dass die Zahl der Todesopfer weiter steigt. „Es gibt Patienten, deren Verletzungen so schwer sind, dass es nicht sicher ist, ob sie überleben“, sagt Katja Storck. Die deutsche Notaufnahme-Krankenschwester ist seit April mit „Ärzte ohne Grenzen“ im staatlichen Khalil-Suleiman-Krankenhaus im Einsatz. Rund 160 Verwundete hat das Haus behandelt, „die meisten mit Schusswunden, schweren Schrapnellen-Verletzungen, aber auch etliche Hundebisse“.

Zuletzt geriet die Klinik selbst unter Beschuss, als die israelische Armee Tränengas in den Innenhof des Krankenhauses und den Eingang zur Notaufnahme schoss. „Wir haben Patienten behandelt, und auf einmal war überall Tränengas“, so Storck. Die Armee erklärte in einer ersten Reaktion, derartige Berichte seien ihr nicht bekannt, warf den militanten Gruppen jedoch vor, sich hinter menschlichen Schutzschilden zu verschanzen.

Für den UNHCR könnte das israelische Vorgehen in Dschenin möglicherweise ein Kriegsverbrechen sein. Die Operationen mit ihrem Maß an Gewalt und Zerstörung stellten „ungeheuerliche Verstöße gegen das Völkerrecht“ dar und seien als kollektive Bestrafung der Palästinenser „nach internationalem Recht nicht zu rechtfertigen“, erklärte das Büro des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte (UNHCR) am Mittwoch.

KNA

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