Mit Radioschulen aus der Armut

Mit Radioschulen aus der Armut

Guatemala ‐ In Guatemala ist der Zugang zu Bildung bis heute nicht selbstverständlich. Fünf von zehn Kindern brechen die Schule ab, weil das Geld fehlt und sie den Eltern bei der Arbeit helfen müssen. Als Direktorin der guatemaltekischen Radioschulen will Guillermina Herrera Peña dieser Situation ein Ende setzen.

Erstellt: 07.12.2015
Aktualisiert: 15.11.2022
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Guillermina Herrera Peña war die erste Universitäts-Rektorin in Guatemala. Sie hatte die Chance, als junges Mädchen die Schule zu besuchen und später zu studieren: Bis heute ist das in ihrer Heimat keine Selbstverständlichkeit. Deswegen hat sie sich als Direktorin der guatemaltekischen Radioschulen der Aufgabe verschrieben, jenen einen Zugang zu Bildung zu ermöglichen, denen dieser Weg sonst versperrt bliebe.

Es ist Abend in San Pedro Sacatepéquez, einer Kleinstadt rund 20 Kilometer außerhalb von Guatemala-Stadt. Miriam Bolaños Reyes hat Feierabend, Essen gekocht, aufgeräumt, ihre Familie versorgt. Punkt 20 Uhr ertönt aus ihrem kleinen Kofferradio in der Küche die markante Melodie aus Tschaikowskis „Nussknacker“. Dann kündigt eine sonore Stimme das Programm an: El maestro en casa, zu Deutsch: Der Lehrer zu Hause.

Heute steht Mathematik auf dem Stundenplan: Die Zahlen bis 999 sind das Lernziel der Woche, erklärt die Sprecherin im Radio. Dann verweist sie auf eine Seite im Buch, wo unterschiedliche Quetzal-Münzen abgebildet sind, Guatemalas offizielle Währung. Miriam soll ausrechnen, wie viel Geld jeweils abgebildet ist.

Bild: © Pohl/Adveniat

30 Minuten dauert eine Schulstunde. Miriam sitzt an ihrem Küchentisch und hört konzentriert zu. Sie schreibt etwas in ihr Buch, radiert die Zahlen aus, denkt nach, schreibt wieder. Sie ist eine von mehreren tausend Schülern, die sich jedes Jahr bei IGER, dem Instituto Guatemalteco de Educación Radiofónica, dem Guatemaltekischen Institut für Radioschulen, einschreiben. Es richtet sich an junge Frauen und Männer ab 15 Jahren, die als Kinder nicht die Schule besuchen konnten. Mit dem landesweit ausgestrahlten Programm von IGER können sie die Grundschule, die mittlere Reife und seit kurzem auch das Fachabitur nachholen; die Abschlüsse sind vom guatemaltekischen Bildungsministerium offiziell anerkannt. „Wir sind für viele Menschen die einzige Chance. Ich bin davon überzeugt, dass Bildung der beste Weg aus der Armut ist und dass wir so die Gesellschaft verändern können!“, sagt Julia Guillermina Herrera Peña, die IGER seit zwei Jahren leitet.

Die Dame mit dem grauen Kurzhaarschnitt und den dunklen, wachen Augen sitzt in ihrem Büro und erklärt stolz: „Die Idee ist einfach: Wenn Menschen der Weg in die Schule versperrt ist, muss der Lehrer ins Haus kommen – nämlich per Radio.“ Der Münchner Jesuit Franz Graf von Tattenbach brachte sie 1979 nach Guatemala, ihm und seinem Institut ist Guillermina Herrera jahrzehntelang verbunden gewesen. Darum zögerte sie auch nicht, als man sie im Jahr 2013 fragte, ob sie die neue Direktorin von IGER werden wolle. Das Thema Bildung hat in ihrem Leben immer eine zentrale Rolle gespielt.

Bildung als Privileg

Zuvor war Julia Guillermina Herrera Peña Rektorin der Universität Rafael Landívar gewesen. Die erste Frau, die in ihrer Heimat jemals so einen hohen Posten innehatte. 1971 hatte sie dort selbst ihren Abschuss in Philosophie und Literaturwissenschaften gemacht. Sie studierte in New York und lehrte in Madrid. Für sie eine Selbstverständlichkeit, sie war in einem Klima von Gleichberechtigung und Chancengleichheit aufgewachsen. Ihre Eltern hatten sie, ihre drei Schwestern und ihren Bruder immer darin bestärkt, zu lernen. „Wir waren eine der ersten Familien, in der alle Mädchen studierten“, erinnert sie sich, „das war ein großes Privileg!“

Denn in Guatemala ist der Zugang zu Bildung bis heute nicht selbstverständlich. Nach wie vor sind die Analphabetenraten die höchsten auf dem ganzen Kontinent. Fünf von zehn Kindern brechen die Schule ab, weil das Geld fehlt und sie den Eltern bei der Arbeit helfen müssen.

Für sie ist das Programm „El maestro en casa“ konzipiert. Unterrichtsbeginn ist um 20 Uhr, damit alle, die tagsüber arbeiten, die Möglichkeit haben, mitzumachen. Ein kleines Küchenradio kann sich fast jeder leisten, die Radiowellen gelangen mühelos auch in die entlegensten Regionen. Dorthin, wo es keine Schulen gibt. Irgendwann, so wünscht sich die Direktorin, sollen die Unterrichtsstunden auch als Podcasts verfügbar sein, die jeder Schüler mit seinem Tablet oder Smartphone herunterladen kann. Aber das ist noch Zukunftsmusik.

Und so lange wird das Programm in der Hauptstadt produziert und über die zahlreichen lokalen Partnersender ausgestrahlt. 155 Quetzales kostet ein Schuljahr, das sind umgerechnet rund 20 Euro. Jeder angemeldete Schüler erhält dafür die von IGER speziell produzierten Bücher mit den Lektionen und Übungen. Am Wochenende treffen sich alle Schüler eines Dorfes oder einer Region mit einem Orientierungslehrer, um gemeinsam zu üben und die offenen Fragen zu klären.

 

Unterstützung aus Deutschland

Hilfe für dieses Bildungsprojekt kommt auch aus Deutschland: Die Diözese Rottenburg-Stuttgart fördert den Sender seit Jahren – ebenso wie das Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat. Denn Bildung und Entwicklungsperspektiven sind die Grundlage für eine Gesellschaft mündiger Bürger, die ihre Zukunft und ihr Land mitgestalten. Und nur das kann zu Frieden beitragen in einem Land, das fast 20 Jahre nach Ende des Bürgerkrieges die höchsten Gewaltraten auf dem ganzen Kontinent aufweist.

Dass Guillermina Herrera für IGER ihren Ruhestand aufgeschoben hat, hat sie nie bereut: „Ich liebe diese Arbeit.“ Bis heute haben insgesamt rund 560.000 Menschen bei IGER einen Abschluss gemacht und sich so die Chance auf ein besseres Leben erarbeitet.

Die Direktorin von IGER nimmt mit Genugtuung zur Kenntnis, dass sich für die Radiokurse immer mehr Frauen anmelden. „Immer häufiger übernehmen in Guatemala auch Frauen verantwortungsvolle Jobs und das ist nur mit der entsprechenden Bildung möglich“, sagt sie. Guatemala ist ein junges Land, fast 40 Prozent der Bevölkerung sind unter 15 Jahren. Das sei ein Potenzial, das genutzt werden müsse, sagt die Bildungsexpertin. „Diese jungen Menschen haben noch alle Kraft und alle Träume. Darin müssen wir sie bestärken – trotz der vielen Schwierigkeiten, die es in unserem Land gibt. Ich wünsche mir eine junge Generation, die kritisch, informiert und durch eine ganzheitliche Ausbildung gut vorbereitet für das Leben ist. Das ist mein Traum für unsere Gesellschaft und IGER trägt seinen Teil dazu bei.“

Von Ina Rottscheidt

© Adveniat