Frankreichs schwierige Kirchenpolitik im kolonialen Tunesien
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Frankreichs schwierige Kirchenpolitik im kolonialen Tunesien

Tunesien ‐ Nach Tunesiens Unabhängigkeit präsentierte die sozialistische Regierung der katholischen Kirche eine alte Rechnung. Über ein Jahrhundert waren die Christen unter dem Protektorat Frankreichs zu triumphal aufgetreten.

Erstellt: 22.11.2017
Aktualisiert: 17.01.2024
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Nach Tunesiens Unabhängigkeit präsentierte die sozialistische Regierung der katholischen Kirche eine alte Rechnung. Über ein Jahrhundert waren die Christen unter dem Protektorat Frankreichs zu triumphal aufgetreten.

Mehrere Kardinäle marschierten auf, über 100 Bischöfe und ungezählte Priester. Glockengeläute, Weihrauchwolken, bunte Gewänder und Menschenmassen. Der Eucharistische Weltkongress in Karthago respektive Tunis im Mai 1930 war in gewisser Weise der Höhepunkt des französischen Kolonialismus im Verbund mit der Kirche.

Für das muslimische Nordafrika war die triumphalistische Machtdemonstration der Kirche ein neuerlicher Affront der Kolonialmacht Frankreich – und Roms, des alten Feindes aus der Antike. Der spätere Staatsgründer, der Sozialist Habib Bourguiba (1903-2000), beschrieb den Kongress gar als einen „Kreuzzug“.

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Solche Assoziationen kamen nicht von ungefähr – fuhr die Kirche doch schon seit Jahrzehnten im mächtigen kolonialen Fahrwasser des französischen „Protektorats“. Das 1843 gegründete Apostolische Vikariat Tunesien wurde 1884 zum Erzbistum Karthago erhoben.

Das frühe Christentum der Antike mit ihren Frontmännern Cyprian von Karthago und Augustinus von Hippo war mit der islamischen Eroberung des 7. Jahrhunderts untergegangen. Nun sollte das Rad zurückgedreht werden.

Der Ordensgründer der „Weißen Väter“, Kardinal Charles Martial Lavigerie (1825-1892) wurde 1884 von Papst Leo XIII. zum ersten Erzbischof von Karthago und damit – nach antiker Tradition – zum Primas von ganz Afrika („Primas Africae“) ernannt. Von Lavigerie ging auch die Initiative zum Bau einer Kathedrale in Karthago aus.

Sie wurde binnen weniger Jahre auf dem höchsten Punkt des Bursa-Hügels errichtet, wo einst die Akropolis der antiken Großmacht Karthago stand. Die mächtige Kathedrale St. Louis war dem französischen König Ludwig dem Heiligen geweiht, der 1270 genau hier als Kreuzfahrer starb.

Das Gotteshaus mischt byzantinisch-romanische und maurische Elemente. Ein umlaufendes Mosaikband formuliert in dicken lateinischen Lettern den Führungsanspruch des Hausherrn für „ganz Afrika“. Es greift auch einen Ausspruch des elsässischen Papstes Leo IX. (1049-1054) aus der Zeit vor den Kreuzzügen auf: Der Bischof von Karthago sei der erste in Afrika – und es werde dort wieder eine blühende Kirche entstehen.

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Die katholische Kirche in Tunesien bestand im 19. Jahrhundert fast ausschließlich aus Europäern, vielfach französische Beamte und Führungskräfte. Bildung, Erziehung und Caritas besorgten Lavigeries Weiße Väter, der Schulbrüderorden sowie mehrere Frauenorden. Diese Verhältnisse bestanden bis zum Zweiten Weltkrieg weitgehend fort.

Im März 1956 aber musste Frankreich nach Jahrzehnten der Unruhen und Konflikte die Unabhängigkeit seines „Protektorats“ Tunesien anerkennen. Gut ein Jahr später wurde die Monarchie abgeschafft und Tunesien zur Republik.

Unmittelbar vor der Unabhängigkeit hatte es in Tunesien mit seinen damals rund 3,5 Millionen Einwohnern noch rund 2 Prozent Juden und rund 6 Prozent Katholiken gegeben. Doch das aufziehende politische Gewitter warf bereits tiefe Schatten: Der reiche Beitrag der katholischen Orden zum Gesundheits- und Bildungswesen schmolz in den 50er Jahren durch Abwanderung und Aufgabe.

Es zeigte sich nun, dass die Wunde der stolzen Tunesier von 1930 noch keineswegs geschlossen war. Drei Jahrzehnte später präsentierte Staatsgründer Bourguiba die Rechnung. Von Papst Johannes XXIII. forderte er eine Revision des kolonialen Status quo; 1963 wurden Verhandlungen aufgenommen.

Rom buk damals mit seiner sogenannten Vatikanischen Ostpolitik im Kalten Krieg recht kleine Brötchen im Umgang mit den sozialistischen Regimen. Ziel von Kardinalstaatssekretär Agostino Casaroli war, nach knapp zwei Jahrzehnten der Verfolgung das Überleben der unterdrückten Ortskirchen zu sichern – koste es, was es wolle.

Im Zentrum solcher Erwägungen standen vor allem die Feier des Gottesdienstes sowie die leidliche Aufrechterhaltung der apostolischen Sukzession durch (weiheberechtigte) Bischöfe. Die Sozialisten saßen am längeren Hebel – und ließen sich diese Mindestforderungen der Kirche teuer entgelten. Der tunesische Staat kassierte sämtliche 109 Kirchen und Kapellen des Landes bis auf 7 ein und kontrollierte fortan das kirchliche Leben.

Ein psychologischer Clou des sogenannten Modus vivendi (Grundlagenabkommens) von 1964: Bourguiba bestand auf der Kassierung des Erzbistums Karthago – und damit des Primasamtes über Afrika. Die „Territorialprälaten“ von Tunis konnten fortan nur noch Priester weihen, nicht aber Bischöfe: das Aus für alle erdachten Expansionsbestrebungen.

Zehntausende Christen verließen binnen weniger Jahre das postkoloniale Tunesien. Die übrig gebliebenen mussten sich als Diaspora neu erfinden: als dienende Präsenz, nicht mehr als Protegé einer Kolonialmacht.

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