Tunesien als Europas Türhüter
Tausende von Tunesiern riskieren jedes Jahr ihr Leben bei der Überfahrt nach Europa für die Aussicht auf Arbeit. Für Migranten aus dem subsaharischen Afrika ist Tunesien allerdings oft nicht das Sprungbrett nach Europa, sondern die Endstation. Eine Reportage von Annette Steinich (Neue Zürcher Zeitung).
Aktualisiert: 17.01.2024
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Tausende von Tunesiern riskieren jedes Jahr ihr Leben bei der Überfahrt nach Europa für die Aussicht auf Arbeit. Für Migranten aus dem subsaharischen Afrika ist Tunesien allerdings oft nicht das Sprungbrett nach Europa, sondern die Endstation. Eine Reportage von Annette Steinich (Neue Zürcher Zeitung).
„Ich habe achtzehn Stunden gebraucht bis Lampedusa. Manchmal dauert es drei Tage“, sagt Mustapha Huidi, Fischer im kleinen Hafen von El Louza an der tunesischen Küste etwa vierzig Kilometer nördlich von Sfax. Die meisten seiner Kollegen aus der Gegend um die Kleinstadt Jebeniana waren schon einmal in Lampedusa, manche mehrmals. Jeder kennt jemanden, der einen Familienangehörigen bei der Überfahrt im Meer verloren hat. Einmal im Monat setzen die Boote von dem Küstenstreifen ab, der nur etwa 140 Kilometer Luftlinie von der italienischen Insel entfernt ist. Um die hundert Personen können mitfahren. Meistens sind ungefähr zwanzig von ihnen Tunesier, die anderen kommen aus Syrien, Algerien oder aus dem subsaharischen Afrika. „Hier ist das Ufer seicht. Deshalb waten wir nachts erst ein bis zwei Kilometer aufs Meer hinaus und steigen dann in das Boot“, erklärt Huidi die Reisemodalitäten, als wäre es ein regulärer Pendelverkehr.
Aufstieg dank Auswanderung
Es ist ein ganzes Netz, das davon lebt, dass junge Leute hier keine Perspektive sehen und davon träumen, aus Europa mit ein wenig mehr als nichts zurückzukehren: der Bootsbesitzer, der von jedem der Auswanderer zwischen 1500 und 2000 Dinar, also 850 bis 1100 Franken, erhält; seine Freunde, die jeweils zwanzig bis fünfundzwanzig auswanderungswillige Männer anwerben und dafür als „Joker“ umsonst mitfahren dürfen; der Lastwagenbesitzer, der die Passagiere eine Woche vor der Überfahrt einsammelt und in ein sogenanntes „safe house“ bringt; dessen Eigentümer, die die Untergetauchten beim Warten auf eine günstige Wetterlage mit Lebensmitteln versorgen.
Auch Najar Haj Mansour aus dem Nachbardorf Al Hamra ist vor zwei Jahren nachts an Bord einer „embarcation de fortune“, wie sie hier die Schlepperboote nennen, Richtung Lampedusa gestartet. Vor einem Jahr kehrte er wieder heim, kaufte ein kleines Fischerboot und warnt nun jeden, der ihn hören will: „Direkt vor uns ist ein Schiff gekentert. Ich habe die Toten im Meer gesehen. Deshalb sage ich unseren jungen Leuten: Lasst es. Es ist lebensgefährlich.“ Seine Warnungen verhallen im Wind. An der tunesischen Küste ist das Eldorado Europa so nah wie nirgends in Afrika und Auswanderung der vermeintlich einzig mögliche Weg zum sozialen Aufstieg. Fast zwei Drittel der Bevölkerung von Jebeniana sind unter 35, die Arbeitslosigkeit ist hoch, die Erträge der Landwirtschaft reichen kaum zum Leben.
„Im Mittelmeer werden die Menschenrechte der Migranten verletzt.“
Unmittelbar nach der Revolution vor drei Jahren haben Zehntausende von Tunesiern ihr Land über das Mittelmeer verlassen. Fast tausend sind dabei gestorben oder verschollen. In den Wirren dieser Zeit gab es kaum Grenzkontrollen, und auch heute funktioniert die Küstenwache schlecht. „Sie sehen uns nicht. Sie drehen uns ja den Rücken zu“, bemerken die Fischer von El Louza vielsagend. Laut offiziellen Angaben des Innenministeriums sind im Jahr 2011 dennoch über 7000 Migranten auf dem Meer gefasst und zurückgebracht worden; 2012 waren es noch gut tausend. Das internationale Netzwerk „Watch the Med“ versucht Licht ins Dunkel der Flüchtlingstragödien auf dem Mittelmeer zu bringen. Wissenschaftler und Aktivisten arbeiten auf beiden Seiten des Mittelmeers mit der gleichen Technologie wie die europäische Küstenwache. Mit Radaraufnahmen und Augenzeugenberichten werden schiffbrüchige Flüchtlinge lokalisiert und die Reaktionen der Grenzkontrolleure dokumentiert. „Im Mittelmeer werden die Menschenrechte der Migranten verletzt. Tunesien wird dabei von der Europäischen Union als Vorzimmer ihrer Grenzkontrollen benutzt“, wettert Nicanor Haon von der tunesischen Menschenrechtsorganisation FTDES , die „Watch the Med“ in Tunis unterstützt.
Rückkehrer aus der Schweiz
Viele Auswanderer sind inzwischen freiwillig zurückgekehrt, mit enttäuschten Erwartungen im Gepäck und ein wenig Hoffnung, dass es in einem demokratischen Tunesien doch eine Zukunft für sie gibt. Mustapha Huidi, der Fischer aus El Louza, ist einer von ihnen. Von Lampedusa ist er über Chiasso in die Schweiz eingereist, sein Asylgesuch wurde abgelehnt. Über einen Verwandten hat er von dem Rückkehrerprojekt des Bundesamtes für Migration gehört. Die Schweiz hat sein Flugticket nach Tunis bezahlt, ihm am Zürcher Flughafen 1.000 Franken gegeben und den Kontakt zur Internationalen Organisation für Migration (IOM) hergestellt, die sich im Auftrag der Schweizer Kooperation um die Rückkehrer in Tunesien kümmert. Bis zu 3.000 Franken können sie für ihr Projekt beantragen, für ein Gemeinschaftsprojekt 15 000. Huidi hat sein Fischerboot zusammen mit drei Freunden mit dem Geld gekauft, ebenso wie sein Kollege Najar Haj Mansour.
Auch der 32-jährige Mourad Msalmi aus Jebeniana hat deshalb die Schweiz wieder verlassen, mit seiner Frau und zwei Bekannten drei große Gewächshäuser gebaut und Paprika gepflanzt. Das Startkapital hat er in Tunesien von der Schweiz bekommen, nachdem er eine dreiwöchige Ausbildung über das örtliche Arbeitsamt absolviert und einen Businessplan vorgelegt hatte. „Am Anfang war es schwer, weil ich keine Erfahrung hatte. Aber jetzt geht es langsam aufwärts. Ich will hier nicht mehr weg“, erklärt Msalmi.
„Migration ist ein Entwicklungsfaktor. Und wir wollen dazu beitragen, dass Tunesier, deren Asylgesuch in der Schweiz abgelehnt wurde, in ihrer Heimat eine Zukunft haben und dort Arbeitsplätze schaffen“, sagt Barbara Dätwyler Scheuer, Leiterin des Schweizer Programms in Tunis. Seit Mitte 2012 sind 700 Migranten auf diesem Weg zurückgekehrt. Die Migrationspartnerschaft mit Tunesien ist auch im Interesse der Schweiz, selbst wenn die befürchtete Flüchtlingswelle aus den Ländern des „arabischen Frühlings“ ausgeblieben ist.
Von Abidjan nach Sfax
Inzwischen scheint Tunesien selbst auf dem Weg vom Transit- und Auswanderungsland zum Einwanderungsland zu sein. Als Adèle vor sieben Monaten von Côte d’Ivoire nach Tunesien kam, war sie voll Hoffnung: „Man hat mir erzählt, in Tunesien verdiene ich als Schneiderin mehr als doppelt so viel wie zu Hause. Ich wollte meiner Familie helfen“, sagt die junge Frau aus Abidjan, deren Gesicht von der Enttäuschung zerfurcht ist. Ein nigerianischer Vermittler, Lahual Tohin ist einer seiner vielen Namen, hat ihr eine Arbeitsstelle versprochen und ein Flugticket geschickt. Lahual hat Adèle am Flughafen in Tunis ihr Bargeld abgenommen und sie nach Sfax gebracht, doch nicht in die erwartete Textilwerkstatt, sondern als Putzfrau in eine Oberschichtsfamilie. „Ich arbeite den ganzen Tag, das Haus darf ich nicht verlassen. Ein eigenes Zimmer habe ich nicht. Essen bekomme ich, wenn die Familie satt ist“, flüstert Adèle fassungslos. Nur 400 Dinar im Monat, etwa 220 Franken, verdient sie, ohne Arbeitsvertrag, ohne Versicherung. Die ersten beiden Monatslöhne hat die Familie an den Vermittler gezahlt, dann wiederum 800 Dinar für die Aufenthaltsgenehmigung, die sie aber bis heute nicht hat. „Neulich wollte der Patron meinen Pass. Aber ich habe ihn ihm nicht gegeben“, sagt Adèle mit dem Mut der Verzweifelten, die viele andere Frauen von Côte d’Ivoire kennt, die in der gleichen Sackgasse stecken wie sie. Wenn sie könnte, kehrte sie sofort nach Abidjan zurück.
Immer noch besser als daheim
Jonathan Wyok Bahago, der zur katholischen Gemeinschaft der Weißen Väter gehört, hat im Stadtzentrum von Sfax ein offenes Haus, Ohr und Herz für Menschen in Not. Der charismatische Nigerianer hält bis heute täglich den Kontakt zu den 170 verbliebenen Flüchtlingen in dem offiziell seit einem halben Jahr geschlossenen Uno-Durchgangslager Choucha an der libyschen Grenze. Père Jonathan ist die Anlaufstelle für afrikanische Studenten, Flüchtlinge und Migranten, für Menschen, die über das Meer wegwollen, und für Frauen wie Adèle. Weil er das Problem an der Wurzel packen will, hat er die Organisation „Intelligence Africaine“ gegründet: „Wir wollen die wachsende afrikanische Diaspora hier stärken und schützen, ohne Ansehen der Religion. Wir müssen die tunesische Gesellschaft sensibilisieren und zeigen, was wir Afrikaner beitragen können.“ Wer aus Côte d’Ivoire, Senegal, Mali oder Mauretanien nach Tunesien einreist, braucht kein Visum und hat neunzig Tage Aufenthaltsrecht.
„Es gibt Menschenhändlerringe in Tunesien, aber der Staat schaut weg“, erklärt Père Jonathan. Früher hätten die reichen Städter Mädchen vom Lande für die Hausarbeit angestellt, doch heute suchten immer mehr Migranten aus dem subsaharischen Afrika ihr Glück in Tunesien und nähmen diese Stellen an. Reguläre Visumsanträge stellen in Tunesien vor allem Studenten aus Subsahara-Afrika. „Während der Diktatur gab es nur versteckten Rassismus. Seit der Revolution segelt er ganz offen unter dem Banner der Meinungsfreiheit“, sagt der Ivoirer Blassami Touré von der Studentenorganisation Aesat (Association des étudiants et stagiaires Africains en Tunisie). Fast täglich gebe es Übergriffe und Beschimpfungen. Sexuellen Belästigungen und versuchten Vergewaltigungen sehe die tunesische Polizei oft tatenlos zu. Bis das Innenministerium eine Aufenthaltsgenehmigung ausstelle, könne bis zu einem Jahr vergehen: „Der tunesische Staat diskriminiert uns systematisch. Die Universitäten kümmern sich nicht um Integration“, kritisiert der 32-jährige Touré. Arbeitserlaubnisse an Subsahara-Afrikaner vergibt Tunesien nicht, obwohl es bis zu 100.000 offene Stellen zum Beispiel im Bausektor oder in der Landwirtschaft gibt, gerade während der Olivenernte. Auf die Frage, warum dennoch viele Studenten nach Tunesien kämen, antwortet Touré lächelnd: „Weil es hier immer noch besser ist als zu Hause. Und weil der Mythos Europa nur zwei Schritte entfernt scheint.“
„Tunesien darf nicht zum Türhüter der europäischen Grenzen werden.“
Einwanderungsland Tunesien
„Weil man es nicht bis Europa schafft, kommen viele erst einmal nach Tunesien“, erklärt Hassan Boubakri, Migrationsexperte und Geografieprofessor an der Universität Sousse. Tausende von irregulären Migranten vermutet Boubakri in Tunesien; offizielle Zahlen gibt es allerdings so wenig wie ein geltendes Asylgesetz oder eine kohärente Migrationspolitik. Unter Ben Ali herrschte auch hier Repression, irreguläre Migranten wurden verhaftet und in der libyschen Wüste ausgesetzt. Wenn mit der Demokratie auch der Wohlstand kommt, könnte sich auch der Zustrom aus Subsahara-Afrika vergrößern. „Tunesien muss zu einem Einwanderungsland werden. Migration kann eine Quelle für Wohlstand sein, aber sie muss geregelt sein“, fordert Boubakri. Anfang März haben Tunesien und die Europäische Union eine Mobilitätspartnerschaft unterzeichnet, die den Zugang zu Visa für Tunesier erleichtern soll, wenn im Gegenzug Tunesien einen Beitrag zur Verhinderung irregulärer Migration nach Europa leistet. Boubakri sagt warnend: „Tunesien darf nicht zum Türhüter der europäischen Grenzen werden.“
Bundesrätin Simonetta Sommaruga sagte unlängst bei ihrem Besuch in Tunesien im Gespräch: „Tunesien überlegt jetzt, wie es seine Grenzen schützen will. Und wie immer bei Grenzen geht es dabei auch darum, dass sie durchlässig bleiben, nicht zuletzt für Menschen, die Schutz brauchen.“ Wenn Tunesien daran arbeitet, die Menschenrechte der Migranten, die einwandern wollen oder hier nur stranden, zu achten, dann muss dies ebenso in Europa geschehen.
Von Annette Steinich
Erstveröffentlicht am 07.03.2014 in der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) (Nr. 55). Mit herzlichem Dank für die Abdruckgenehmigung an Annette Steinich.
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