„Ein Weiter so geht nicht“
Bild: © KNA

„Ein Weiter so geht nicht“

Misereor-Fastenaktion ‐ Am Sonntag startet Misereor seine Fastenaktion gemeinsam mit der Kirche in Indien. Was dahinter steckt, berichten Misereor-Chef Pirmin Spiegel und der in der Bischofskonferenz für Misereor zuständige Freiburger Erzbischof Stephan Burger.

Erstellt: 14.02.2018
Aktualisiert: 04.01.2023
Lesedauer: 

Zum 60. Geburtstag veranstaltet das katholische Entwicklungshilfswerk Misereor erstmals seine traditionelle Fastenaktion gemeinsam mit der Kirche in Indien. Was dahinter steckt und wie sie die aktuelle Situation in dem Land einschätzen, berichten Misereor-Chef Pirmin Spiegel und der in der Bischofskonferenz für Misereor zuständige Freiburger Erzbischof Stephan Burger im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) im südindischen Bangalore.

Frage: Erzbischof Burger, Monsignore Spiegel, zur Vorbereitung der Fastenaktion waren Sie eine Woche in Indien unterwegs. Was nehmen Sie mit nach Hause?

Burger: Zunächst Eindrücke von einem Land mit großer Vielfalt – zwischen enormem Potenzial und Hoffnungen auf der einen Seite und einer inneren Zerrissenheit mit einer großen Spannung zwischen Arm und Reich auf der anderen. Gerade das Schicksal der armen Menschen treibt mich besonders um.

Spiegel: Neben vielen bewegenden Begegnungen haben sich bei mir einige Zahlen im Kopf festgesetzt: Das Durchschnittsalter liegt bei 26 Jahren. In Indien leben 1,3 Milliarden Menschen und damit mehr als in ganz Afrika. Jeden Monat strömen eine Million junge Leute zusätzlich auf den Arbeitsmarkt. Das zeigt einige der riesigen Potenziale und Herausforderungen.

Frage: Sie haben die große Not schon angesprochen. Was hat Sie da besonders bewegt?

Spiegel: Ein Beispiel: In der Zwei-Millionen-Stadt Patna im Nordosten betreuen unsere Partner insgesamt 28 Slums. Einen davon direkt an den Bahngleisen. Alle paar Minuten rollt ein Zug mit unheimlichem Lärm vorbei. Es gibt kein fließendes Wasser, keine Toiletten, nur eine winzige Wasserstelle, wo die Menschen sich und ihre Kleider waschen. Inmitten dieses Kontextes entdecken wir aber auch immer wieder Hoffnung und Einstehen für Würde.

Burger: Trotz aller Not strahlen viele der Menschen eine Fröhlichkeit und einen Optimismus aus, den ich erstaunlich finde. Sie kämpfen für ihre Träume und Wünsche, die aus unserer Perspektive extrem bescheiden sind. Sie streben nicht nach Reichtum oder Karriere, sie wollen nur die Sicherheit haben, dass nicht die Bulldozer kommen und ihre ärmlichen Hütten plattmachen. Sie wollen sicher wohnen und dass ihre Kinder zur Schule gehen können, um es später mal besser zu haben. Und da halte ich es für unsere Pflicht, ihnen dabei zu helfen, dieses Leben in Würde und Sicherheit führen zu können.

Bild: © Misereor

„Ein Weiter so ist nicht möglich, weder in Indien noch bei uns. Wir müssen unseren Lebensstil und unsere Produktionsweisen überdenken und ändern.“

—  Zitat: Pirmin Spiegel, Misereor-Hauptgeschäftsführer

Frage: Was macht Ihnen da Hoffnung, dass dies wirklich gelingen kann?

Spiegel: Wichtig sind die Mitarbeiter unserer Partnerorganisationen vor Ort. Beeindruckt hat mich deren Nähe zu den verletzlichsten und ärmsten Menschen am Rand – etwa zu den Adivasi, also der ursprünglichen indigenen Bevölkerung, und zu den Dalits, den sogenannten Unberührbaren und Kastenlosen. Also zu denen, um die sich sonst niemand kümmert, die nicht dazuzugehören scheinen.

Frage: Können die Helfer denn wirklich etwas bewirken angesichts der vielen Millionen Menschen am Rand in der riesigen indischen Gesellschaft?

Burger: Natürlich können Sie nicht das ganze Leid wegnehmen. Wichtig ist, dass die Menschen in den Dörfern und den Slums spüren, dass es Menschen gibt, die sie auf ihrem Weg begleiten, die sie stärken, die ihnen nicht das Goldene vom Himmel versprechen, sondern mit ihnen ganz konkrete Schritte in die Zukunft gehen. Entscheidend ist auch, dass sie nicht bloße Hilfsempfänger sind, sondern selbst in die Lage versetzt werden, für ihre Rechte zu kämpfen und ihre Lebensumstände zu verbessern. Genau darum geht es ja auch jetzt in der Misereor-Fastenaktion...

Frage: ... die zum ersten Mal gemeinsam mit Kirche und Caritas in Indien veranstaltet wird. Unter dem Motto „Heute schon die Welt verändert?“

Spiegel: Dabei heißt „heute“, dass die Zeit drängt und wir nicht länger warten dürfen, sonst geht das erneut auf Kosten der Verletzlichsten. „Verändert“ heißt für mich: Ein Weiter so ist nicht möglich, weder in Indien noch bei uns. Wir müssen unseren Lebensstil und unsere Produktionsweisen überdenken und ändern. Und „Welt“ heißt, dass heute alles miteinander zusammenhängt, so wie es Papst Franziskus in der Enzyklika „Laudato si“ deutlich macht und es die Nachhaltigkeitsziele der UN formulieren. Ich denke da an Themen wie Klimawandel, Flüchtlinge, Hunger, Ausgrenzung oder gerechter Handel.

Burger: Das Motto fordert jeden von uns auf, ganz konkret in seinem Alltag und seinem Umfeld zu schauen, was ich verändern kann, um die Welt ein Stück besser und gerechter zu machen. Dabei dürfen wir natürlich auch nicht die Armen bei uns vergessen, was ja manchmal kritisiert wird. Man kann und darf nie die Not und die Menschenwürde in Deutschland und in Indien gegeneinander ausspielen. Wir müssen uns dafür einsetzen, dass alle Menschen in Würde leben können, egal, wo sie zu Hause sind.

Frage: Nochmals nachgefragt: Welche Rolle spielt das Gemeinsame bei der Fastenaktion?

Burger: Vor allem heißt das für mich: Wir sind nicht der reiche Westen, der den armen Indern Almosen gibt und ihnen sagt, was sie tun müssen. Wir sind Partner auf Augenhöhe, und die Menschen vor Ort entscheiden selbst, wozu sie in der Lage sind, Veränderungen herbeizuführen. Und wir unterstützen sie dabei.

Spiegel: Da passiert auch schon sehr viel – etwa im sogenannten Empowerment. Menschen werden befähigt, sich weiterzubilden und wichtige Rollen in ihrem Dorf oder in ihrem Slum zu übernehmen. Oft sind es Frauen, die dann sehr selbstbewusst mit Unternehmen und Politikern verhandeln, um ihre Rechte und die ihrer Gemeinschaft einzubringen und auch durchzusetzen. Solidarität wird da sehr großgeschrieben. Ich denke etwa an ein zehnjähriges Mädchen, das uns von ihrem Lebenstraum erzählt hat: Sie will die Schule abschließen, eine Lehre machen und in einer Bank arbeiten. Und dort will sie ihren Eltern, ihrer Familie und dem ganzen Dorf helfen, besser mit finanziellen Fragen, Krediten und ähnlichem klarzukommen. Bei vielen steht da Solidarität und Gemeinwohl im Vordergrund anstelle von Eigennutz. Das finde ich sehr bewegend und hoffnungsvoll.

Frage: Jetzt sind die Christen in Indien ja nur eine winzige Minderheit. Was können zwei Prozent in diesem Land bewirken?

Burger: Eine Menge, denke ich. Denn auch sie denken nicht in erster Linie an sich, sondern an das Gemeinwohl. Sie engagieren sich für alle und helfen allen – unabhängig von Religion und Kaste. Ihre klare Botschaft ist, dass man Menschen nicht in Schubladen stecken darf, sondern dass Würde und Menschenrechte nicht teilbar sind.

Spiegel: Dieser Einsatz bringt auch Probleme, wenn zum Beispiel radikale Hindunationalisten Christen vorwerfen, sie wollten nicht Menschen helfen und sie fördern, sondern lediglich missionieren. Dass das jeder Grundlage entbehrt, haben uns alle Partnerorganisationen, Priester und Bischöfe versichert. In ihren Schulen oder Sozial- und Gesundheitsstationen helfen sie allen – und Hindus machen 80 Prozent der Bevölkerung aus. Diese Bewusstseinsarbeit bleibt eine Zukunftsaufgabe, um Spannungen abzubauen und ein Miteinander zugunsten der Verletzlichsten und zugunsten der Schöpfung zu ermöglichen.