Friedensnobelpreisträger Mukwege über das Leiden im Ostkongo
Menschenrechte ‐ Friedensnobelpreisträger Denis Mukwege hat in Tübingen über sexualisierte Gewalt und die Leiden von Frauen im Ostkongo berichtet. Er richtete einen eindringlichen Appell an die Bundesregierung, ihre Einflussmöglichkeiten im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zu nutzen.
Aktualisiert: 04.07.2019
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Einen eindringlichen Appell, ihre Einflussmöglichkeiten im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen für das Ende der anhaltenden Gewalt im Kongo zu nutzen, richtete der kongolesische Arzt, Pastor, Menschenrechtsaktivist und Träger des Friedensnobelpreises 2018, Dr. Denis Mukwege (64), an die deutsche Bundesregierung.
Er mahnte aber auch Empathie, geschwisterliche Solidarität gegenüber den geschundenen Frauen und Kindern des afrikanischen Landes und nicht zuletzt ein bewusstes Verbraucherverhalten bei seinen überaus zahlreichen Zuhörerinnen und Zuhörern an, die ihn am 23. und 24. Juni 2019 bei seinen Vorträgen an der Tübinger Universität und in der Stuttgarter Stiftskirche begeistert feierten. Und vor allem forderte er Aufklärung über die Vorgänge in der Demokratischen Republik Kongo: „Wir müssen die Wahrheit befreien. Ohne Wahrheit gibt es keine Gerechtigkeit, und ohne Gerechtigkeit gibt es keinen Frieden.“
Kooperation mit der Diözese Rottenburg-Stuttgart und Missio
Mukwege war Gast des Deutschen Instituts für Ärztliche Mission e. V. (Difäm), Tübingen, das Mukwege seit 1997 unterstützt, und seiner Kooperationspartner, darunter die Hauptabteilung Weltkirche der Diözese Rottenburg-Stuttgart und das Päpstliche Missionswerk Missio. Er traf sich mit Ministerpräsident Winfried Kretschmann. Und der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer gab einen Empfang im Rathaus, wo sich Mukwege ins Goldene Buch der Uni-Stadt eintrug. Der Friedensnobelpreis ist keineswegs die erste internationale Ehrung des hoch verdienten Arztes – der übrigens als erster Arzt nach Albert Schweitzer (1952) damit ausgezeichnet worden ist.
Seit 1999 leitet Denis Mukwege das Panzi-Krankenhaus in der ostkongolesischen Stadt Bukavu, wo er am 1. März 1955 als Sohn eines evangelischen Pfarrers geboren wurde. Nachdem eine andere Klinik, in der er zunächst als Kinderarzt und später als Gynäkologe und Geburtshelfer gearbeitet hatte, überfallen worden, die Mitarbeiterschaft getötet und er selbst zum Flüchtling geworden war, kam er mit seiner Familie in die Klinik seiner Heimatstadt. Dr. Gisela Schneider, die Direktorin des Difäm, besuchte ihn dort erstmals 2008 und steht seither in enger Verbindung mit ihm. Mukwege ist auch Universitätsprofessor in Bukavu, bildet Fachärztinnen und -ärzte aus und ist dabei, ein Kompetenzzentrum aufzubauen, das sich die wissenschaftliche Fundierung des gesellschaftlichen Wandels in der Demokratischen Republik Kongo zur Aufgabe gemacht hat.
20 Jahre militärische Konflikte mit Millionen Opfern
Der gesellschaftliche Zusammenhalt der Bevölkerung im Osten Kongos sei zerrissen, sagt Mukwege. Seit 1999 toben dort bewaffnete Konflikte, die bisher sechs Millionen Menschen das Leben gekostet und 4,5 Millionen im eigenen Land in die Flucht getrieben haben. Hunderttausende Frauen, junge und alte Frauen und sogar Mädchen und Kleinkinder, sind auf bestialische Weise ermordet worden. Die 50.000 Frauen und Mädchen, die Mukwege in diesen 20 Jahren als Opfer sexualisierter Gewalt in seiner Klinik behandelt und denen er wieder zurück ins Leben verholfen hat, seien nur die Spitze des Eisbergs, sagt er. Die Allermeisten schafften mit ihren schweren Verletzungen den Weg in ein Krankenhaus gar nicht mehr, oder sie versteckten sich in ihrer Not, die Ausgrenzung und tiefste Scham für sie bedeute.
Sexualisierte Gewalt ist eine billige Kriegswaffe
Denis Mukwege lebt mit seiner Familie seit einem Anschlag auf ihn vor einigen Jahren, bei dem ein Mitarbeiter vor den Augen seiner Kinder ermordet worden war, gefährlich. Nie kann er in seiner Klinik, wo er seit der Rückkehr von der Flucht in die USA wohnt, und an anderen Orten ohne Sicherheitsbegleiter der UN sein. Denn er deckt schonungslos die Hintergründe des fürchterlichen Quälens und Mordens in seinem Land auf. Es geht um Bodenschätze, um Kobalt für Batterien, um Coltan für Handys und Smartphones, auch um Gold und Diamanten. Um diese Ressourcen so billig wie möglich abzubauen, wird die Bevölkerung der Regionen, in denen sich die Vorkommen befinden, systematisch eingeschüchtert – und zwar vor allem durch die Vergewaltigung der Frauen und Mädchen, deren Grausamkeit der Arzt an vielen Einzelbeispielen schildert und die dennoch unbeschreibbar sind. „Sexualisierte Gewalt“, so betont er immer wieder, „hat nichts mit der kongolesischen Kultur zu tun“. Vor diesen beiden letzten Dekaden habe er so etwas überhaupt nie erlebt. „Sexualisierte Gewalt ist eine Kriegswaffe, die billigste Kriegswaffe überhaupt. Und sie wird systematisch geplant und eingesetzt. Wir wissen ganz genau, wer die Verantwortlichen sind, und mit welchen Unternehmen sie zusammenarbeiten.“ Die Verbrechen finden öffentlich statt, massenhaft, oft vor den Augen der Ehemänner, der Kinder, der Dorfgemeinschaft. Nicht nur die Frauen werden physisch und psychisch zerstört, auch die Familien und die sozialen Bindungen sind ruiniert. Zurück bleibt eine demoralisierte Gesellschaft. Die Kinder, die aus Vergewaltigungen hervorgehen, sind zumeist ausgestoßen und verachtet. Es ist inzwischen eine ganze Generation, die nichts als Gewalt, Chancenlosigkeit und Verzweiflung kennt. „Eine soziale Zeitbombe“, sagt Mukwege. Der Generalsekretär der UN sei jetzt beauftragt, Wege zu finden, wie diesen jungen Menschen geholfen werden kann, etwa durch einen globalen Fonds.
Die diabolische Strategie der Warlords ist einfach: Wenn der Widerstand der Menschen gebrochen ist, gehen sie entweder weg, und die Zerstörung der Siedlungsgebiete und der Abbau der Rohstoffe können beginnen. Oder aber die Menschen bleiben da und sind so gebrochen und gefügig gemacht, dass sie sich zur Sklavenarbeit in den Minen zwingen lassen – auch Frauen und Kinder, Letztere für einen Tageslohn, der gerade einmal für eine Banane reicht. Profitabler können die begehrten Ressourcen nicht gewonnen werden – profitabler für alle Nutznießer in der Produktions- und Handelskette.
Verantwortung auf politischer, auf persönlicher und auf kirchlicher Ebene
Was lässt einen Arzt wie Denis Mukwege und seine Mitarbeitenden angesichts all dieses Schreckens durchhalten? „Die Kraft, der Lebensmut der Frauen. Ihre Fähigkeit zur Resilienz. Sie können wieder lachen und tanzen, wenn sie geheilt sind.“ Und weil sie sowohl medizinisch behandelt werden als auch psychisch, seelsorgerlich und juristisch begleitet, finden sie wieder in die Gesellschaft zurück – und: sie wagen es ihre Peiniger anzuzeigen und ihre Leiden zu schildern.
Das ist eine der Forderungen, die Mukwege stellt: Die unbeschreiblichen Kriegs- und Menschenrechtsverbrechen, die seit einem UN-Bericht aus dem Jahr 2010 ebenso wie ihre Verantwortlichen detailliert bekannt sind, müssen endlich zu Konsequenzen führen, und die Täter müssen der internationalen Gerichtsbarkeit zugeführt und bestraft werden. Es ist für die Frauen unzumutbar, immer noch ihren Peinigern zu begegnen, die in den Generalsrängen umso höher aufsteigen, je brutaler sie gewütet haben. Die deutsche Bundesregierung, deren Einsatz etwa für die UN-Resolution 2467 gegen sexuelle Gewalt in Konflikten (2019) Mukwege ausdrücklich würdigt, habe die Macht, mit diplomatischen Mitteln entsprechenden Druck auf internationaler Ebene auszuüben.
Die zweite Forderung richtet sich an die Verbraucher in Europa. Ihre Marktmacht sei groß, und wenn sie sie entsprechend einsetzten, würden die Unternehmen sich rasch auf Veränderungen und faire Produktions- und Handelsketten besinnen. Der Verzicht auf E-Mobilität oder Handys sei nicht der richtige Weg, aber: „saubere Mobilität und saubere Handys durch saubere Rohstoffe“, d. h. ohne Umweltverwüstungen, ohne Gewalt und ohne Versklavung von Frauen und Kindern. „Und wenn die Produktion von Batterien in Europa für Euch zu teuer ist, dann produziert sie doch bei uns. Es gibt genügt junge Menschen, die das auch können. Und dann denken sie auch nicht mehr an Migration nach Europa.“ Denn auch dies: die Probleme der Migration könnten nicht in Europa gelöst werden, sie müssten an der Wurzel, d. h. in Afrika gelöst werden. Ein Rückzug der europäischen Unternehmen aus den Handelsbeziehungen mit dem Kongo würde nur den Weg für die Chinesen weiter freimachen, für die Umwelt- oder Menschenrechtsauflagen völlig bedeutungslos seien.
Und schließlich: „Die Kirchen müssen ihre prophetische Botschaft wieder entdecken und den Mut haben, die Wahrheit zu befreien, damit sie von allen gehört wird.“
Von Dr. Thomas Broch
Dieser Beitrag erscheint in der Ausgabe 2019 des Magazins „Der geteilte Mantel. Das Magazin zur Weltkirchlichen Arbeit der Diözese Rottenburg-Stuttgart“.
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