„Ich möchte die Menschen von den Wunden des Krieges heilen“
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„Ich möchte die Menschen von den Wunden des Krieges heilen“

Bildung ‐ Die 22-jährige Afghanin Siamoy Rasa will später einmal treibende Kraft des Wandels in ihrem bürgerkriegsgeplagten Land werden. Mithilfe des Online-Lernprogramms „Jesuit Worldwide Learning (JWL)“ konnte sie auch in einem abgelegenen Dorf in Daikondi, Zentralafghanistan, Englisch lernen und unterrichtet es nun selbst. Dass sie als Frau alleine zum Arbeiten ins Dorf kam, stieß bei so manchem Bewohner zunächst auf Unverständnis.

Erstellt: 20.08.2019
Aktualisiert: 28.12.2022
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Die 22-jährige Afghanin Siamoy Rasa will später einmal treibende Kraft des Wandels in ihrem bürgerkriegsgeplagten Land werden. Mithilfe des Online-Lernprogramms „Jesuit Worldwide Learning (JWL)“ konnte sie auch in einem abgelegenen Dorf in Daikondi, Zentralafghanistan, Englisch lernen und unterrichtet es nun selbst. Dass sie als Frau alleine zum Arbeiten ins Dorf kam, stieß bei so manchem Bewohner zunächst auf Unverständnis.

„Ich bin Siamoy Rasa. Ich wurde in eine große, arme und religiöse Familie in Daikundi, Afghanistan, geboren. Ich bin 22 Jahre alt und habe sieben Schwestern und keinen Bruder. Mein Vater starb vor sechs Jahren und meine älteren Schwestern sind bereits verheiratet. Ich bin die fünfte Tochter in meiner Familie. Ich bin alleinstehend und verdiene das Geld für meine Mutter und drei jüngere Schwestern.“

—  Zitat: Siamoy Rasa, JWL-Absolventin aus Afghanistan

Frage: Siamoy, wie hast du von der Möglichkeit erfahren, am Jesuit Worldwide Learning-Programm teilzunehmen?

Siamoy Rasa: Ich habe in meinem Dorf angefangen, mithilfe der Jesuiten Englisch zu lernen. Danach ging ich in die Provinz Bamiyan und lernte dort weiter. Darüber erfuhr ich von der Möglichkeit, bei den Jesuiten ein Onlineprogramm für ein Diplom in „Liberal Arts“ absolvieren zu können. Ich nahm an der Aufnahmeprüfung teil, aber wurde im ersten Anlauf nicht genommen. Ein Jahr später habe ich es noch mal versucht und dieses Mal hat es geklappt. Ich wollte unbedingt Englisch lernen. Jesuit Worldwide Learning (JWL) und der Jesuit Refugee Service (JRS) widmen sich zudem vorwiegend Flüchtlingen und Menschen, die keine Möglichkeit zum Studieren haben. Und ich habe seit meiner Kindheit den Traum, Sozialarbeiterin zu werden, jemand, der mit den Menschen arbeitet, sie versteht und mit ihnen mitfühlt. Das Studium war sehr effektiv und interessant für mich und ich habe viel gelernt: Religionen der Welt, Ethik, Politik, Kunst, zwischenmenschliche Kommunikation, Menschenrechte, etc. Aber mein Schwerpunkt war Soziale Arbeit. Ich kann sagen, dass das Lernen mit den Jesuiten – sei es in den Englischkursen oder dem Diplomstudium – mein Leben wirklich sehr verändert hat.

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„Ich möchte eine treibende Kraft des Wandels sein in meinem Land und anderen die Bedeutung von Menschlichkeit, Mitgefühl, Hilfe, Empathie und Sympathie beibringen.“

—  Zitat: Siamoy Rasa, JWL-Studentin aus Afghanistan

Frage: Wie haben Freunde und Familie reagiert, als du ihnen erzählt hast, dass du bei den Jesuiten lernst?

Rasa: Meine Familie war sehr froh und sie ermutigte mich dazu. Meine Freunde ebenfalls. Eine Gruppe, die nicht so gut reagiert hat, waren die religiösen Vertreter und jene, die etwas traditioneller und engstirniger waren. Sie dachten, dass, wenn unsere Mädchen und Jungen in dem Programm studieren, sie von ihrer eigenen Religion und ihrem Lebensstil abkommen und dem Christentum beitreten, das Land verlassen und sich gegen uns und unsere Religion stellen. Die religiösen Führer machten ständig Werbung für die Religionsschulen und riefen die Menschen dazu auf, ihre Kinder dorthin zu schicken, anstatt sie Englisch lernen zu lassen. Englisch ist in ihren Augen nicht die passende Sprache für unsere Religion, wir sollten uns lieber auf unsere Sprache und Religion besinnen, meinten sie.  

Frage: Wie war es für dich als Muslima, mit den Jesuiten und ihren christlichen Werten in Berührung zu kommen?

Rasa: Ich bin Muslima und folge meiner Religion, auf die ich stolz bin. Mit jesuitischen und christlichen Werten in Berührung zu kommen bedeutete nicht, dass meine Religion und mein Glaube dadurch beeinträchtigt wurden. Denn jede Gruppe folgt ihrem eigenen Weg und dann ist es nicht wichtig für sie, wer welcher Religion folgt. Meine Mutter mahnt mich manchmal, meine Religion und meinen Glauben ernstzunehmen und mich nie zu verlieren. Aber ich kann ihr dann zufriedenstellende Antworten darauf geben.

Frage: Du lebst in einer sehr abgelegenen Gegend. Wie viele Menschen leben in deinem Ort?

Rasa: Ja, ich lebe sehr abgeschieden. Es leben hier etwa 2.000 Menschen oder mehr. Aber sie sind sehr rückständig, was Bildung, Studium und Arbeit angeht. Die meisten arbeiten in der Landwirtschaft und sehen grundsätzlich von einem Studium ab. Als ich hier zum ersten Mal ankam, fragten sie mich, was ich hier tue und ob ich Familie habe. „Hast du einen Vater, eine Mutter?“, fragten sie. „Wie haben sie dir erlauben können, ohne jemanden hierher zu kommen?“ Ich sagte zu ihnen, dass ich ja dennoch Familie habe und so erlaubten sie mir, hier zu arbeiten. Es ist mir nicht wichtig, wo ich bin. Mein Ziel ist es einfach, Menschen zu helfen. Für die Menschen hier war es das erste Mal, dass sie ein Mädchen sahen, das weit weg von seiner Familie lebte und arbeitete. Nach einer Weile gewöhnten sie sich daran, es motivierte sie sogar, ihren eigenen Töchtern zu erlauben, zum Studium in andere Provinzen zu reisen. Es leben hier also viele Menschen, die nicht sehr aufgeschlossen und gebildet sind.

Frage: Welche anderen Möglichkeiten, abgesehen von dem Programm der Jesuiten, haben die Menschen hier zu lernen und zu studieren?

Rasa: Manche von ihnen schicken ihre Familien in andere Provinzen. Die meisten machen nach der Schule nicht weiter, einige studieren in dem Global English Language Programm (GEL) der Jesuiten. Andere Möglichkeiten, zu lernen und zu studieren haben sie hier nicht.

Frage: Ist es für Frauen normal, in der Region zu studieren?

Rasa: Es ist tatsächlich normal, dass Frauen lernen und studieren. Ich habe den Eindruck, dass ein Großteil der Studenten innerhalb und außerhalb der Provinz Frauen sind.

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„Ein Großteil der Studenten hier sind Frauen.“

—  Zitat: Siamoy Rasa, JWL-Studentin

Frage: Hat es in dieser Region oder deiner Heimatregion Konflikte gegeben?

Rasa: Ja, die Gegend hier war vom Bürgerkrieg betroffen. Es gab hier Gruppen, die sich gegenseitig bekriegt haben, aber die meisten Menschen waren Opfer von diesen Konflikten: Sie konnten nicht zur Schule gehen, hatten keinen Zugang zu Unterrichtsmaterialien und konnten niemanden finden, der sie unterrichtete. Die meisten der Menschen hier haben Familienmitglieder verloren und sehr unter dem Krieg gelitten.

Frage: Wie bekommst du persönlich den Krieg im Land zu spüren?

Rasa: Ich bekomme Angst, wenn ich an Krieg denke oder das Wort höre. Der Krieg hat meinem Land Aufstieg und Entwicklung verwehrt. Ich habe das Gefühl, dass es nie besser wird, Menschen nie in Frieden leben werden, sie werden nie Bildung erhalten, sondern so weitermachen müssen wie bisher. Aber es gibt auch Hoffnung, dass eines Tages Frieden herrschen wird.

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Frage: Jetzt leitest du selbst ein Englisch-Lernzentrum in Khidir in Zentralafghanistan. Wie kam es zu dieser Entscheidung?

Rasa: Ich habe mich so entschieden, weil ich mein erworbenes Wissen mit meinen Leuten teilen und es ihnen weitergeben will. Denn ihnen bleiben sogar ihre grundlegenden Menschenrechte wie Bildung verwehrt. Ich möchte ihnen helfen, die Bedeutung ihres Lebens herauszufinden und will ihnen klarmachen, dass sie dazu in der Lage sind, zu lernen und zu studieren. Ich möchte, dass sie sich selbst verbessern und es anderen beibringen. Ich will Schritt für Schritt ihr Denken verändern und sie ermutigen, zu studieren und zu arbeiten; auf ihren eigenen Beinen zu stehen. Die meisten sind Schüler und 80 Prozent davon sind weiblich und über 18. Die anderen 20 Prozent sind Jungs und Männer.

Frage: Was planst du für deine Zukunft?

Siamoy: Ich leite hier eine Nichtregierungsorganisation und ich werde anfangen, weitere Zentren in den entlegendsten Regionen aufzubauen, um Menschen ohne Zugang und Mittel für Bildung zu helfen. Ich will auch an der Seite von Flüchtlingen, Vertriebenen und armen Menschen stehen. Ich mache meinen Bachelor im Fach „Leadership“, weil ich eine große Führungspersönlichkeit sein und meine Provinz und Afghanistan langsam verändern werde. Ich wäre gerne eine berühmte Persönlichkeit, die für ihre Freundlichkeit, Hilfsbereitschaft und Unterstützung bekannt ist. Schließlich möchte ich eine treibende Kraft des Wandels sein in meinem Land und anderen die Bedeutung von Menschlichkeit, Mitgefühl, Hilfe, Empathie und Sympathie beibringen. Ich möchte die Menschen von den Wunden des Krieges, Analphabetismus, Armut und Verlust heilen.

Das Interview führte Claudia Zeisel.

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„Ich bin Siamoy Rasa. Ich wurde in eine große, arme und religiöse Familie in Daikondi, Afghanistan, geboren. Ich bin 22 Jahre alt und habe sieben Schwestern und keinen Bruder. Mein Vater starb vor sechs Jahren und meine älteren Schwestern sind bereits verheiratet. Ich bin die fünfte Tochter in meiner Familie. Ich bin alleinstehend und bin Ernährerin für meine Mutter und drei jüngere Schwestern.“