
„Eine unbegreifliche Unmenschlichkeit“
Kurz vor dem zweiten Jahrestag am 7. Oktober ist immer noch kein Ende des Gaza-Krieges in Sicht. Der höchste Vertreter der katholischen Kirche in der Region zieht Bilanz.
Aktualisiert: 24.09.2025
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Kardinal Pierbattista Pizzaballa (60) ist seit fünf Jahren Lateinischer Patriarch von Jerusalem – und damit oberster katholischer Repräsentant in Nahost. Im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) äußert sich der Italiener zu zwei Jahren Gaza-Krieg und zur Lage der im Kampfgebiet verbliebenen Christen. Außerdem sagt er, welche Voraussetzungen für einen Besuch von Papst Leo XIV. im Heiligen Land erfüllt sein müssten.
Frage: Herr Kardinal, zwei Jahre Gaza-Krieg, und die Bodenoffensive bedeutet eine neue Eskalation. Was macht das mit der Region, mit den Menschen?
Kardinal Pierbattista Pizzaballa: Was sich militärisch in Gaza ereignet, ist ein einziges Desaster. Wir kennen die Geschichte des Konfliktes, dem ist nichts hinzuzufügen. Ich denke, es hat als Konsequenz eine menschliche Verwüstung, eine Verrohung in den gegenseitigen Beziehungen zwischen Israelis und Palästinensern gegeben. Es gibt kein Vertrauen mehr, keinerlei menschliches Interesse des einen am anderen. Es ist eine Unmenschlichkeit, die kaum zu begreifen ist.
Frage: Was kann man tun? Sehen Sie einen Ausweg?
Pizzaballa: Wir als Kirchen sind klein, wir haben keine große Macht oder Einfluss auf Entscheidungen. Das ist Sache der lokalen und auch der internationalen Politik – die unfähig scheinen, den Kurs zu ändern. Das Einzige, was die Gläubigen können, ist beten und humanitäre Hilfe leisten – so viel wie möglich. Und man kann den internationalen Druck auch über die Medien aufrechterhalten. Man darf zu diesen Vorgängen nicht schweigen.
Frage: Wie ist die Lage der mehr als 450 verbliebenen Christen in Gaza? Bleiben sie – oder folgen sie ebenfalls dem israelischen Evakuierungsaufruf?
Pizzaballa: Etwa zehn Personen sind weggegangen, die anderen sind geblieben. Wir versuchen, ihnen so viel wie möglich zu helfen und humanitäre Unterstützung zu leisten. Wir versuchen, medizinische Hilfsmittel hineinzubringen, denn besonders die Gesundheitssituation ist sehr problematisch. Dabei wollen wir möglichst vielen Menschen in Gaza helfen, nicht nur der christlichen Gemeinde.
Frage: Bietet das Areal der katholischen Pfarrei den Christen in dieser Situation ausreichend Schutz?
Pizzaballa: Das ist in dem Kontext schwierig. Eine absolute Sicherheit kann es hier nicht geben, wie wir in der Vergangenheit leider erleben mussten. Es kann leicht zu irgendwelchen Irrtümern, Versehen kommen. Zudem ist der Komplex nicht besonders stabil gebaut. Es sind alte Gebäude, da reicht schon eine kräftige Druckwelle, um Zerstörungen anzurichten.
Frage: Wird es auch in Zukunft eine christliche Gemeinde in Gaza geben - oder wird sie verschwinden?
Pizzaballa: Der eine oder andere wird sicher fortgehen, aber bestimmt nicht alle. Manche wüssten auch gar nicht, wohin sie gehen sollten, nicht alle haben die Mittel, um wegzugehen. Das Pfarrzentrum wird zweifellos bleiben. Es wird weiter Christen, eine christliche Gemeinde in Gaza geben.
Frage: Auch im Westjordanland und in Jerusalem wird die Lage der Christen schwieriger: Die Spannungen nehmen zu, der Druck, Aggressionen, Übergriffe - zuletzt im christlichen Palästinenser-Ort Taibeh. Was sagen Sie dazu?
Pizzaballa: Das betrifft nicht nur Taibeh, sondern das Westjordanland insgesamt, von Dschenin im Norden bis Bethlehem gibt es Probleme. Es sind verschiedene Formen von Bedrängnis – etwa durch die Siedler. Es gibt aber auch wirtschaftlichen Druck, denn überall fehlt Arbeit. Und dann die eingeschränkte Bewegungsfreiheit, Checkpoints, Sperrungen, die das Leben schwer machen. Es ist ein allgemeiner Druck von verschiedenen Seiten.
Frage: Was tun Sie, damit es weiterhin christliche Gemeinden im Heiligen Land gibt?
Pizzaballa: In dieser Situation ist es äußerst schwierig, über Zukunftsprojekte und -perspektiven zu sprechen. Man weiß und versteht nicht, was passiert, was sich wohin entwickelt. Die einzigen, die in diesem Moment reden, sind die Extremisten. Man kann die Zukunft hier nicht voraussehen. Es ist daher schwierig, ein Wort der Hoffnung zu sagen - was ja eigentlich unser Wunsch ist. Es wäre zu einfach zu sagen, die Dinge änderten sich, aber wir wissen nicht, wie und wann. Natürlich leisten wir humanitäre Hilfe, unterhalten Schulen, arbeiten im Gesundheitswesen. Wir versuchen, denen die ohne Arbeit sind, wieder Arbeit zu verschaffen - das ist nicht leicht.

Kardinal Pierbattista Pizzaballa (m.), Lateinischer Patriarch von Jerusalem, am 20. Juli 2025 mit Ministranten in einem Gottesdienst in der Kirche der Heiligen Familie in Gaza (Palästinensische Gebiete).
Frage: Was kann die Weltkirche tun, welchen Einfluss hat sie? Tut sie genug für die Kirche im Heiligen Land?
Pizzaballa: Wir erhalten eine große Unterstützung von der Universalkirche. Viele Diözesen in aller Welt unterstützen uns, auch in Afrika. Sie schicken Beiträge zur materiellen Hilfe. Und sie schicken uns Solidaritätsbriefe und Schreiben der Verbundenheit. Das ist sehr schön.
Frage: Und Papst Leo XIV.: setzt er sich ebenso für das Heilige Land ein wie sein Vorgänger Franziskus?
Pizzaballa: Es sind sehr unterschiedliche Persönlichkeiten. Aber die Verbundenheit und das Interesse am Heiligen Land besteht ebenso. Auch Papst Leo setzt sich immer wieder mit der Gemeinde in Gaza in Verbindung. Er äußert sich öffentlich zu unserer Situation. Er tut, was er tun kann. Auch die vatikanische Diplomatie arbeitet für uns, soweit sie es in dieser schwierigen Situation kann. Was wir tun können: uns in respektvoller Weise, aber mit klarer Sprache äußern.
Frage: Der Vatikan plädiert im Nahost-Konflikt für eine Zwei-Staaten-Regelung und hat Palästina offiziell anerkannt. Aber ist eine solche Lösung überhaupt noch möglich?
Pizzaballa: Die Palästinenser brauchen nicht nur humanitäre, sondern auch menschliche, psychologische Unterstützung: Sie wollen in ihrer Würde als Volk anerkannt werden, und das sollte gemacht werden. Was politisch hier in der Zukunft passieren wird, ist für mich ein Geheimnis. Die Zwei-Staaten-Lösung bleibt für mich die ideale Lösung, die aber immer weniger real erscheint.
Frage: Im Steuerstreit zwischen den christlichen Kirchen und Israel scheint die traditionelle Steuerbefreiung für die Kirchen am Ende. Bedeutet dies das Aus für christliche Institutionen?
Pizzaballa: Es handelt sich um ein altes Problem, keine neue Frage, sie kommt immer wieder auf. Auch die Kirchen müssen hier ihre Hausaufgaben machen und ihre Situation sorgfältig überprüfen. Sie müssen bei ihrer Arbeit und ihren Aktivitäten unterscheiden zwischen Gottesdienst und Seelsorge, dem Sozialbereich und kommerziellen Tätigkeiten. Was rein kommerziell ist, muss sich nach den entsprechenden Regeln des Landes richten. Aber der Rest muss bewahrt und erhalten werden, also Kult, Klöster, soziale Dienste und Einrichtungen wie Waisenhäuser, Behinderten-Einrichtungen. Das sind keine kommerziellen Unternehmungen, und das müssen wir auch deutlich klarstellen und dafür eintreten.
Frage: Sie haben zum katholischen Heiligen Jahr 2025 einen Schuldenerlass für Familien verfügt, die ihr Schulgeld an Patriarchatsschulen nicht zahlen können. Gilt das nur für christliche Schüler? Und was kostet Sie das?
Pizzaballa: Der Schuldenerlass gilt für alle Familien, wir können da nicht unterscheiden. Natürlich haben wir vorab die zu erwartenden Ausgaben überprüft: Es geht um eine hohe Summe, wir kommen auf etwa zehn Millionen Schekel (rund 2,5 Millionen Euro), wovon die Hälfte freilich alte, nicht-eintreibbare Schulden sind. Bei der anderen Hälfte handelt es sich um reale Schulden.
Frage: Wann erwarten Sie einen Besuch des Papstes im Heiligen Land?
Pizzaballa: Dazu müssen die Bedingungen stimmen, die politischen, die sozialen und religiösen. Bevor wir über einen Papstbesuch sprechen, müssen wir dafür arbeiten, dass es im Heiligen Land ein aufgeschlossenes Klima gibt.
Frage: Bislang reisten die Päpste ins Heilige Land als „Pilger“ und auch als „Friedensboten“. Warum sollte Papst Leo nicht als „Mittler“ für einen Frieden kommen?
Pizzaballa: Es ist nicht Aufgabe der Kirche, direkt zu vermitteln. Ihre Aufgabe ist es, bei der Vermittlung zu helfen.

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