Die arabische Stadt Schfaram beklagt Raketenopfer – und Rassismus
Schfaram ‐ Der Krieg in Nordisrael trifft die arabisch-israelische Bevölkerung unverhältnismäßig stark. Eines seiner letzten Opfer vor dem Waffenstillstand war eine muslimische Lehrerin. Ihr Tod sorgte für Hasskommentare im Netz.
Aktualisiert: 03.12.2024
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Safaa Awad ist eines der letzten zivilen Opfer der Hisbollah im Krieg mit Israel. Am 18. November wurde die 50-jährige Lehrerin und vierfache Mutter aus dem nordisraelischen arabischen Ort Schfaram durch eine Rakete getötet – zehn Tage, bevor ein Waffenstillstand in Kraft trat. „Der Krieg muss enden“, fordert Awads älteste Tochter Ghazan (26). „Jetzt, wo ich den Schmerz kenne, wünsche ich niemandem, dass er das durchmachen muss.“
Ghazan Awad steht auf dem Dach eines Nachbarn und zeigt auf das, was einst ihr Elternhaus war. Ungebremst schlug die Rakete durch das Dach und durchdrang den Schutzraum, in dem Ghazans Mutter Safaa Zuflucht gesucht hatte. Erst das Stockwerk unter den Awads stoppte den tödlichen Flugkörper. Auch die benachbarten Häuser tragen die Spuren der Explosion. „25 Jahre Erinnerungen“ liegen in Trümmern. Vor einem Jahr zog Ghazan zum Studium der Biomedizintechnik nach Haifa.
Nach der Rakete explodierte der Rassismus. Es sei nicht schade um eine Muslimin, Hisbollah habe sich ein Eigentor geschossen und die Tote sei eine Terroristin, die verdammt sein möge: So und ähnlich lautete der Shitstorm in Sozialen Netzwerken. „Es hat alles sehr viel schlimmer gemacht. Meine Mutter war eine Zivilistin, die nicht in die Politik involviert war, sondern als Lehrerin ihrem Land gedient hat. Dass sie Araberin war, macht ihre Arbeit nicht weniger bedeutsam“, sagt Ghazan. Sie könne es nicht leugnen: Der Krieg fordere sie in ihrer Identität als arabische Israelin heraus. Andere arabisch-israelische Opfer lösten ähnliche Reaktionen im Internet aus.
Obwohl sie nur ein Fünftel der Bevölkerung ausmachen, sind 58 Prozent der zivilen Opfer in Israels Norden arabische Israelis, so die Organisation „Sikkuy“, die sich für Gleichberechtigung zwischen jüdischen und arabischen Israelis einsetzt, auf der Plattform X. Sie macht die Regierung für das Ungleichgewicht verantwortlich, die nicht genügend Schutzräume für arabische Gemeinden zur Verfügung stelle. Arabische Vertreter machten laut Medienberichten einen weiteren Grund geltend: Die Armee platziere Raketenabwehrsysteme nahe arabischen Orten, die dadurch deutlich stärker von herabfallenden Raketenteilen getroffen würden. Die Armee weist diesen Vorwurf zurück.
Kein ausreichender Schutz?
„Eine Rakete macht keinen Unterschied zwischen Juden und Arabern“, sagt Jamal Alyan. Für den Drusen, der in der Stadtverwaltung von Schfaram für den Bereich Schutz und Sicherheit zuständig ist, greift die Kritik am Staat zu kurz. „Die arabische Gesellschaft hat ein Mentalitätsproblem. Sie hat dem Thema Schutz und Sicherheit nicht genügend Beachtung geschenkt“, so das Mitglied der Likud-Partei von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu.
Im Fall von Schfaram sei man aber im Gespräch mit den Behörden zu dem Schluss gekommen, dass es keine zusätzlichen Bunker brauche. In der dichtbevölkerten 52.000-Einwohner-Stadt gibt es acht öffentliche Bunker. Die jüdische Stadt Karmiel, gut 20 Kilometer nordöstlich und kaum größer, hat mehr als 100 Bunker. Die Bausubstanz Schfarams ist laut Alyan in vielen Teilen bis zu 200 Jahre alt. Nur die neueren Gebäude verfügen über wohnungseigene Schutzräume.
Safaa Awad hatte einen Schutzraum. Im entscheidenden Moment hat er sie nicht geschützt. Ihr Tod habe die Kollegen und die Schüler hart getroffen, sagt Ola Anabtawi. Sie leitet die Schule, an der Awad mehr als zwei Jahrzehnte lang Geschichte und Erdkunde unterrichtete. Auch Awads jüngster Sohn Abdallah gehört zu den Schülern. Unter dem Anfeuern seiner Mitschüler kämpft er an diesem Tag auf der Bühne des örtlichen Gemeindezentrums mit einem Schwert aus Luftballons gegen einen Clown. Anabtawi hat den Unterricht für ihre 300 Schülerinnen und Schüler durch einen Ereignistag ersetzt. Musik und fröhliche Aktivitäten sollen den Kindern den Verlust der beliebten Lehrerin erleichtern.
Der Tod Safaas sei ein Thema bei den Kindern, die psychologisch betreut würden, sagt Asmahan Rabie. Die Englischlehrerin zählte Awad zu ihren besten Freundinnen. Ihre Hauptaufgabe an der Schule sei es, Sicherheit zu wahren. „Wir sprechen mit den Kindern über die Sicherheitsvorschriften, über die Hoffnung auf Frieden und die Rückkehr der israelischen Geiseln.“ Darüber hinaus kämen der Krieg oder die Lage beim arabischen Nachbarn Libanon im Schulalltag nicht vor. „Wir sind Israelis, ich bin in dieses Land geboren und habe jüdische und christliche Freunde“, sagt die Muslimin. „Wir sind alle zusammen in dieser Situation und müssen uns an erster Stelle um uns, unsere Kinder und unser Land kümmern.“
„Wir haben unsere Mutter verloren. Und trotzdem sind wir privilegiert: Wir haben einen Waffenstillstand“, sagt Ghazan Awad. „In Gaza geht der Krieg weiter, und ihr Schmerz ist so viel größer.“ Sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Geschichte ihrer Mutter zu erzählen, so, wie die Geschichte eines jedes Opfers dieses Kriegs erzählt werden sollte.