Christliches Dorf im Libanon wird zum Schutzraum für Flüchtlinge
Beirut ‐ Man hört Vögel zwitschern, blickt ins Tal und sieht das Mittelmeer glitzern. Doch die Idylle trügt. Ein christliches Dorf nördlich von Beirut ist zur Notunterkunft für Kriegsflüchtlinge im Libanon geworden.
Aktualisiert: 22.10.2024
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Der Krieg zwischen Israel und der Hisbollah scheint in Beit Chebeb weit weg. Das Dorf liegt in einem christlich dominierten Gebiet im Libanon und gilt daher derzeit als sicher. Die radikal-islamische Hisbollah ist hier nicht präsent, auch wenn es bis Beirut nur 24 Kilometer sind. Beit Chebeb ist ein idealer Ort, um die aufzunehmen, die vor dem Krieg geflohen sind.
Aus dem Campus des lokalen technischen Instituts ist eine Notunterkunft für etwa 140 Binnengeflüchtete geworden. Sie stammen aus dem Südlibanon oder aus Südbeirut, sind Muslime oder Christen. Die Ältesten hier sind Großeltern, der Jüngste ist gerade einmal ein Jahr alt. Der Krieg ist ihren Häusern und Wohnungen seit dem 23. September immer nähergekommen. Damals intensivierte Israel seine Luftangriffe auf den Südlibanon und auf die Bekaa-Ebene. Kurz darauf wurde auch Beirut zum Ziel.
Am Morgen sitzen viele von ihnen im Hof, trinken starken libanesischen Kaffee aus kleinen Pappbechern und rauchen die erste Shisha des Tages. Es gebe ja sonst nicht viel zu tun, scherzt eine Bewohnerin. Doch an diesem Tag ist etwas anders: Eine Jugendgruppe der Caritas, die die Notunterkunft mit der lokalen Kirchengemeinde betreut, ist gekommen. Gemeinsam laden sie einen großen Lautsprecher aus dem Van. Ein Animationsprogramm für die Kinder – mit Musik und Tanz – soll ihnen helfen, die Erinnerungen an den Krieg zumindest für eine Weile hinter sich zu lassen.
Im Hinterhof der Schule versammeln sich Kinder und Helfende, pusten bunte Ballons auf und hüpfen zu Popsongs auf dem Asphalt. Die Kinder lachen und kreischen, auch die Jugendlichen machen mit, versuchen dabei jedoch cool zu wirken. Auch ein paar Mütter gesellen sich dazu. Hinter ihnen, befestigt an der Mauer, die den Hof begrenzt, trocknet auf langen Leinen die Wäsche.
Gewaschen wird in einem großen Raum neben dem Hinterhof; zwei Maschinen stehen dort. Nour Tafech betreut für die katholische Hilfsorganisation Caritas die Notunterkunft. Jede Familie bekomme einen Zeitrahmen zugeteilt, in dem sie ihre Wäsche waschen kann, erzählt sie.
Auf ihrem Arm hält Tafech einen kleinen Jungen. Spiro ist sein Name, und er ist in der Notunterkunft ein kleiner Star. Mit seinen dunklen Locken, den großen, wachen Augen und seinem fröhlichen Lachen verzückt der Jüngste im Haus beinahe jeden. „Er liebt mich“, lacht Tafech, und setzt ihn ab. Erst an ihrer Hand, dann alleine, macht er ein paar wacklige Schritte. „In diesem Hof hat er Laufen gelernt“, sagt sie.
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Als Spiro Anfang Oktober mit seiner Familie seine Heimatstadt Sour im Südlibanon verlässt, krabbelt er noch. Seine Mutter Loria, die nur ihren Vornamen nennt, erzählt: Schon das ganze vergangene Jahr über hören sie die Luftschläge des israelischen Militärs auf Hisbollah-Stellungen. Von ihrer Wohnung aus sehen sie den Grenzort Naqoura. Nur wenige hundert Meter weiter beginnt Israel.
Doch erst nachdem das israelische Militär seine Angriffe auf den Südlibanon intensiviert, kommt ihnen der Krieg richtig nah: Ein Luftschlag des Militärs habe auf ein Gebäude hinter ihrem Wohnhaus gezielt, dann auf das Gebäude neben ihnen, erzählt sie. Ein Teil ihres Hauses sei eingestürzt.
Die Kinder – drei Mädchen und Nachzügler Spiro – hätten solche Panik bekommen, dass Loria ein paar Kleidungsstücke einpackt und schließlich mit ihrer Familie ihr Zuhause verlässt. Sie fahren Richtung Beirut, der Bruder ihres Ehemanns lebt dort. Auf dem Weg geht das Auto kaputt. Sie wechseln in das ihres Bruders, der ebenfalls flüchtet. Eine Nacht bleiben sie in Beirut und überlegen: wohin nun? „Abuna Yakooub hat uns von der Unterkunft in Beit Chebeb erzählt“, sagt Loria. Abuna - Vater - Yakooub ist der Priester der maronitisch-katholischen Gemeinde in Sour, die auch Loria besucht.
Caritas und Kirchengemeinde sorgen für das Essen
Für vier christliche Familien aus Sour, erzählt Tafech, habe der für Beit Chebeb zuständige Erzbischof der maronitisch-katholischen Kirche die Notunterkunft eröffnet. Die Angekommenen wurden im Erdgeschoss einquartiert. Später seien muslimische Familien eingezogen, die meisten haben über das Rote Kreuz von der Unterkunft erfahren. Sie wohnen im Obergeschoss. Auch eine gemischt muslimisch-christliche Familie, ebenfalls aus Sour, lebt dort.
Die Trennung nach Religion sei keine Absicht, sagt Tafech, sondern aus den unterschiedlichen Ankunftszeiten entstanden. Probleme zwischen den Religionsgruppen gebe es nicht. Auch Loria sagt, die Unterkunft sei gut. Es gibt drei Mahlzeiten täglich, Strom, Wasser, Waschmaschinen, gespendete Kleidung, Matratzen, Kissen und Decken. Auch Windeln und Milch für Spiro habe sie bekommen.
Für das Essen sorgen die Caritas und die lokale Kirchengemeinde. Man sei bereit gewesen für den Ernstfall, berichtet Michel Abboud, Leiter der Caritas Libanon. Denn der Libanon ging in den vergangenen Jahren durch viele Krisen: 2019 begann im Land eine zivile Protestbewegung gegen das eingefahrene, korrupte politische System. Infolgedessen verlor die Währung des kleinen Mittelmeerstaates etwa 90 Prozent ihres Wertes, viele Menschen ihr Erspartes. Dann folgte die Corona-Pandemie, dann der 7. Oktober 2023.
Die palästinensische Terrormiliz Hamas griff damals aus dem Gazastreifen heraus dutzende Gemeinden in Israel an, das mit einem harten Militäreinsatz in Gaza regierte. Bereits am 8. Oktober schoss die vom Iran unterstütze, im Libanon ansässige Hisbollah erstmals Raketen auf Israel, nach eigenen Angaben aus Solidarität mit den Menschen in Gaza. Es folgte ein Jahr gegenseitigen Beschusses.
Als daraus Ende September ein Krieg wurde, habe die Caritas eine Hotline aufgesetzt, sagt Abboud. Bei dieser können sich Menschen melden, die ihr Zuhause verlassen mussten. Die Caritas hilft ihnen mit Nahrungsmittelpaketen, Medizin und auch mit Geld. Am zentralen Platz der Märtyrer in Beirut verteilt sie außerdem warme Mahlzeiten. Dort schlafen bis heute einige Menschen auf der Straße, die noch keine Unterkunft finden konnten.
Außerdem ist die Caritas in vielen Notunterkünften, darunter Beit Chebeb, aktiv, so Abboud. Und kooperiere dabei auch mit anderen Hilfsorganisationen. Insgesamt etwa 1.020 solcher Unterkünfte gibt es laut staatlichen Angaben im Libanon. Fast alle sind voll belegt. Zwischen den Religionen unterscheide man nicht, betont Abboud: „Es geht um die Bedürftigkeit.“
In Beit Chebeb ist es Zeit für das Mittagessen. Beinahe alle Bewohnerinnen und Bewohner der Notunterkunft versammeln sich in der Mensa. Die lokale Gemeinde hat Nudeln mit Hackfleischsoße und Salat geliefert. Vor dem gemeinsamen Mahl stehen alle auf. Die jungen Helferinnen und Helfer der Caritas beten vor, die Christinnen und Christen im Raum bekreuzigen sich. Es ist ein Moment der Andacht. Dann setzen sich alle hin, die Teller werden verteilt.
Spiro sitzt auf dem Schoss seiner Mutter und lächelt zufrieden, seine Mundwinkel sind ein wenig orange von der Soße. Der Hof hat sich geleert, auch die anderen Kinder sind zum Essen gekommen. Trotz allem sei die Unterkunft kein Zuhause, sagt Loria. „Hoffentlich ist der Krieg bald vorbei.“ Ob sie und ihre Familie dann nach Sour zurückkehren, wissen sie noch nicht. Aber dann könnten sie immerhin endlich darüber nachdenken.