„Ich gehöre nach Amazonien“
Altamira ‐ Der österreichische Amazonas-Bischof Erwin Kräutler hat sich als Umweltschützer und Kämpfer für die Unterdrückten international einen Namen gemacht. Nun zieht er Bilanz – und spart dabei nicht mit Kritik.
Aktualisiert: 23.07.2024
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Der in Österreich geborene Missionar Erwin Kräutler war von 1981 bis 2015 Bischof und Prälat von Xingu, der flächenmäßig größten Diözese Brasiliens. Seit 2016 „Bischof emeritus“, sieht er Brasilien weiter als seinen Lebensmittelpunkt, berichtet er im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA).
Frage: Herr Bischof, wo leben Sie zurzeit – in Österreich oder Brasilien?
Erwin Kräutler: Seit Oktober 2023 bin ich nach einem gesundheitsbedingten Aufenthalt in Vorarlberg wieder im brasilianischen Amazonien, genau dort, wo ich hingehöre. Einen alten Baum darf man nicht verpflanzen. Im kommenden Jahr feiere ich mein diamantenes Priesterjubiläum und gleichzeitig werden es 60 Jahre sein, seit ich hier am Xingu-Fluss angekommen bin. Ich wusste am ersten Tag, dass ich hierbleiben werde.
Frage: Vier Jahre regierte der Rechtspopulist Jair Messias Bolsonaro in Brasilien. Freuen Sie sich, dass nun wieder der linke Präsident Lula da Silva an der Macht ist?
Kräutler: Meine Begeisterung hält sich in Grenzen. Aber natürlich bin ich froh, dass Lula Bolsonaro abgelöst hat. Dessen Amtszeit war eine Katastrophe für Brasilien. Im Zusammenhang mit dem Bau des umstrittenen Staudamms Belo Monte hatte ich früher Probleme mit Lula. Ich wies ihn auf Bedenken gegen solche Mammut-Kraftwerke in Amazonien hin, die eine enorme Aggression für das Ökosystem sind. Aber für ihn war Belo Monte das Prestigeprojekt Nummer eins. Seine Ingenieure haben die teilweise Austrocknung des Xingu-Flusses nicht ernst genommen, mit verheerenden Folgen für Flora und Fauna, die Flussanrainer und die indigene Bevölkerung. Der brasilianische Staat sowie öffentliche und private Akteure tragen die Verantwortung für den Ökozid in der Region.
Frage: Was stört Sie an der aktuellen Regierungspolitik?
Kräutler: Heute stört mich an Lula seine Widersprüchlichkeit und die Inkonsequenz beim Umweltschutz, Klimawandel und der Verteidigung der indigenen Völker. Er hat sich verpflichtet, die Entwaldung in allen Biomen Brasiliens bis 2030 auf null zu reduzieren. Andererseits aber wettert er gegen das Institut für Umweltschutz (Ibama), das dem staatlichen Energiekonzern Petrobras die Lizenz für Bohrungen im Amazonasbecken verweigert. Lula behauptet zwar, sich für eine Energiewende einzusetzen, aber Brasilien könne nicht auf eine Steigerung der Produktion fossiler Brennstoffe verzichten. Zudem versprach er, alle gegen indigene Völker begangenen Ungesetzlichkeiten zu widerrufen. Er versprach auch die Demarkierung von 14 indigenen Gebieten in den ersten 100 Tagen seiner Amtszeit - was er nicht erfüllte.
Frage: Dabei hat er fähige Leute in seinem Kabinett.
Kräutler: Die Umweltministerin Marina Silva und die erste Ministerin des von Lula gegründeten Ministeriums für indigene Völker, Sonia Guajajara, sind Aushängeschilder für eine Wende in der Umwelt- und Indigenenpolitik. Sie tun, was möglich ist. Aber zu den Widersprüchen und Rückziehern Lulas haben sie geschwiegen, um ihren Chef nicht zu provozieren.
„Selbst in Amazonien und im übrigen Lateinamerika zählt das Schlussdokument der Amazonassynode schon zum alten Eisen“
Frage: Welchen bleibenden Schaden hat Ex-Präsident Bolsonaro in Amazonien angerichtet?
Kräutler: Der größte Schaden ist, dass ihn heute noch viele Leute als einen „Messias“ für Brasilien verteidigen. Das Phänomen Bolsonaro wird wohl noch viele Soziologen, Psychologen und auch Religionswissenschaftler beschäftigen. Es ist ein Rätsel, wie er für das höchste Staatsamt gewählt werden konnte. Seine rassistischen Tiraden, seine Abfälligkeiten gegenüber Frauen und unverhohlene Homophobie waren bekannt. Als Präsident negierte er die Pandemie und lehnte Angebote zur Lieferung von Covid-Impfstoffen schlichtweg ab. In Manaus kam es zu einem furchtbaren Chaos im Gesundheitssystem, weil in den Krankenhäusern kein Sauerstoff mehr zur Verfügung stand. Hunderte erlitten einen grausamen Erstickungstod. Bolsonaro ist verantwortlich für Tausende und Abertausende Covid-19-Tote.
Doch er wird bis heute von Großfarmern, Bergwerksgesellschaften, Holzfällern, Unternehmern und Goldschürfern in Indio-Gebieten hofiert, die den tropischen Regenwald ausbeuten. Bleibt nur zu hoffen, dass die pentekostalischen Gemeinschaften evangelikaler oder katholischer Prägung, die ihn unterstützen, endlich entdecken, dass Bolsonaro kein Messias ist, selbst wenn er diesen Namen trägt.
Frage: Geht der Schutz Amazoniens mit wirtschaftlicher Entwicklung zusammen?
Kräutler: Die Frage ist, was „wirtschaftliche Entwicklung“ bedeutet. Amazonien ist unendlich reich an Bodenschätzen. Es gibt längst Möglichkeiten einer vernünftigen, nachhaltigen Forstwirtschaft, aber leider greifen die Gesetze dazu nicht. Eine Edelholzart nach der anderen wird ausgerottet. Eine gezielte Wiederaufforstung ist die einzig mögliche Zukunft für Amazonien. Aber ohne entsprechende Forstaufsicht durch die Umweltbehörde nützen die besten Gesetze nichts.
Die Zahl von Waldaufsehern und Umweltpolizisten ist ein Hohn. Sie erfüllen ihren Auftrag unter schwierigsten Bedingungen, fühlen sich ohnmächtig und Drohungen ausgesetzt. In unserem Bundesstaat Para werden immer wieder Umweltschützer und Kleinbauern umgebracht, die sich gegen die Zerstörung des Regenwaldes wehren. Kahlschlag und Brandrodung müssen mit sofortiger Wirkung von der Regierung Lula gebannt werden. Es geht ums Überleben dieses Makrobioms. Es kann nicht sein, dass Großfarmer sich über alle Gesetzesvorschriften hinwegsetzen und einfach Feuer legen.
Frage: Hat sich aus der Amazonas-Synode 2019 in Rom etwas Greifbares entwickelt?
Kräutler: Ich denke, dass die Synode als die Fortführung der Reflexion über eine humane Ökologie in der Umweltenzyklika „Laudato si“ verstanden werden sollte. Das Schlussdokument ist sicher ein Meilenstein für die gesamte Kirche, nicht nur für Amazonien. Leider spüre ich, dass dieses Dokument jetzt im Wust so vieler Papiere der Weltsynode zur Synodalität untergegangen ist. Selbst in Amazonien und im übrigen Lateinamerika zählt das Schlussdokument der Amazonassynode schon zum alten Eisen.
Papst Franziskus beschreibt in „Querida Amazonia“ einen Auftrag für unser pastorales Wirken in Amazonien. Leider aber gibt es die widersprüchlichen und beklemmenden Aussagen im Zusammenhang mit der „reserva masculina“ des Weihesakraments und das beredte Schweigen über andere Möglichkeiten des Zugangs zum Weihepriestertum für verheiratete Personen. Für viele Menschen in Amazonien sind solche Ungereimtheiten schlicht enttäuschend.
Frage: Schauen Sie heute optimistischer oder pessimistischer auf das Amazonasgebiet?
Kräutler: Ich bin weder ein ausgesprochener Optimist noch leide ich unter einem melancholischen Pessimismus. Ich habe immer versucht, die Menschen dort abzuholen, wo sie sind und die Realität so zu akzeptieren, wie sie ist, ohne Schönfärberei oder Skeptizismus. Ich gehöre zu den Menschen, die - wie es Papst Franziskus sagt - in Amazonien „leben, mit ihm leiden und es leidenschaftlich lieben“. Keinen einzigen Augenblick in den vergangenen sechs Jahrzehnten habe ich bereut, hierhergekommen zu sein. Ich liebe diese Menschen und ich durfte auch immer viel Liebe und Wertschätzung von ihnen erfahren.