Humanitäres Völkerrecht, Kapitel IV der Genfer Konvention zu Zivilisten von 1949
„Barbarischer Verstoß gegen humanitäres Völkerrecht“

Jurist: Verbrechen der Hamas könnten in Den Haag landen

Bonn ‐ Mit dem Angriff auf Israel hat die Hamas nicht nur großes Leid verursacht, sie hat auch internationales Recht gebrochen. Im Interview erklärt Völkerrechtler Matthias Herdegen, wo die Terrororganisation noch immer rechtswidrig handelt – und welche juristische Handhabe es gibt.

Erstellt: 07.11.2023
Aktualisiert: 07.11.2023
Lesedauer: 
Von Christoph Scholz (KNA)

Der Nahostkonflikt eskaliert. Vor allem die Zivilbevölkerung leidet. Dabei sind die Konfliktparteien gehalten, sich an die Regeln des Völkerrechts zu halten. Der Direktor am Bonner Institut für Völkerrecht, Matthias Herdegen, spricht im KNA-Interview über Hintergründe und Konsequenzen.

Frage: Herr Professor Herdegen, aus dem Nahen Osten erreichen uns erschütternde Bilder der Gewalt. Dennoch gilt zumindest auf dem Papier auch hier das Völkerrecht. Was regelt es?

Herdegen: Zunächst gibt es Israel das Recht, sich militärisch zu verteidigen, da es von der Hamas angegriffen wurde. Gleichzeitig stellt es aber auch Regeln für den Konflikt auf. Dieses „humanitäre Völkerrecht“ gilt unabhängig davon, wer der Aggressor ist. Dazu gehört besonders der Schutz der Zivilbevölkerung.

Frage: Die Hamas beruft sich unter anderem auf vergangenes Unrecht?

Herdegen: Auch das Bewusstsein erlittenen Unrechts erlaubt niemals, einen anderen Staat anzugreifen. Das Völkerrecht verbietet jede Form der Gewaltanwendung außer im Verteidigungsfall. Und dieser liegt hier in einer selten brutalen Eindeutigkeit vor.

„Die Hamas ist weder demokratisch legitimiert noch regiert sie einen Staat.“

—  Zitat: Prof. Dr. Matthias Herdegen

Frage: Wie lange darf sich Israel auf das Selbstverteidigungsrecht berufen?

Herdegen: Solange, wie nach einem Angriff die aktuelle Bedrohung anhält. Dabei wiegt besonders schwer, dass die Hamas die Vernichtung des Staates Israel zum ständigen Ziel erklärt hat.

Frage: Wie bewerten Sie als Jurist das Vorgehen der Hamas?

Herdegen: Der Angriff auf die Zivilbevölkerung mit dem Massaker zu Beginn des Konflikts ist ein schlicht barbarischer Verstoß gegen humanitäres Völkerrecht. Zudem agiert die Hamas in einem äußerst dicht besiedelten Gebiet gezielt aus der Deckung der Zivilbevölkerung heraus. Sie nimmt diese gewissermaßen als Geisel und hindert sie, das Kampfgebiet zu verlassen. Auch das ist ein schweres Kriegsverbrechen.

Matthias Herdegen, Professor für Öffentliches Recht an der Universität Bonn, in Bonn. (Aufnahmedatum unbekannt)
Bild: © Jean Raclet/KNA (Archiv)

Matthias Herdegen, Professor für Öffentliches Recht an der Universität Bonn, in Bonn. (Aufnahmedatum unbekannt)

Frage: Ist die Hamas aber überhaupt ein völkerrechtliches Subjekt?

Herdegen: Die Hamas ist weder demokratisch legitimiert noch regiert sie einen Staat. Sie hat eine faktische Herrschaft in Gaza in Konkurrenz zur eigentlich zuständigen Palästinensischen Regierung in Ramallah errichtet. Ob dieses Regime ein Völkerrechtssubjekt ist oder einfach eine nichtstaatliche Terrororganisation, ist umstritten. Zudem wird sie von anderen Mächten gesponsert, wie dem Iran.

Frage: Trägt der Iran dadurch auch juristisch Mitverantwortung?

Herdegen: Auch die logistische und finanzielle Unterstützung eines Angriffs und von Terroranschlägen verstößt gegen das Völkerrecht. Hierzu gibt es deutliche Hinweise.

Frage: Wie kann unter den gegebenen Bedingungen die Zivilbevölkerung überhaupt geschützt werden und was verlangt das Völkerrecht?

Herdegen: Die Zivilbevölkerung darf niemals ein direktes Ziel werden, und mögliche Opfer müssen immer in einem Verhältnis zum militärischen Ziel stehen. Angesichts der Bevölkerungsdichte in Gaza ist das extrem schwierig. Die israelischen Streitkräfte nehmen nach meiner Einschätzung diese Verpflichtung aber sehr ernst und warnen auch die Bevölkerung vor Kampfhandlungen.

Frage: Ist die zeitweise Abriegelung des Gazastreifens von Energie oder Lebensmitteln und Medikamenten mit dem Völkerrecht zu vereinbaren? Nicht nur die UN warnt vor einer humanitären Katastrophe.

Herdegen: Bei einer Blockade verlangt das Völkerrecht humanitäre Korridore zur Versorgung der Zivilbevölkerung mit Lebensmitteln, Wasser und Medikamenten. Bei der auch für die Krankenhäuser wichtigen Stromversorgung und Benzin ist dies schon schwieriger, weil davon die Hamas militärisch profitieren könnte.

Frage: Ab wann hat der Schutz der Zivilbevölkerung einen Vorrang, wenn selbst der US-Präsident auf eine „humanitäre Pause“ drängt?

Herdegen: Hier gibt es keine genauen rechtlichen Vorgaben. Es gilt wiederum die Verhältnismäßigkeit. Eine Feuerpause bietet der Hamas die Möglichkeit, sich neu aufzustellen. Die Lage ist vor allem so dramatisch, weil die Hamas die Zivilbevölkerung für ihre Strategien missbraucht, zumal wenn sie Kommandozentralen unter Moscheen, Krankenhäuser oder Schulen positioniert.

„Das Völkerrecht erlaubt, Kombattanten oder Kämpfer der Gegenseite anzugreifen.“

—  Zitat: Völkerrechtler Prof. Dr. Matthias Herdegen

Frage: Darf Israel dann dennoch angreifen, wie etwa bei der Bombardierung eines Flüchtlingslagers?

Herdegen: Das ist menschlich gesehen erschütternd. Aber es gab dort offenbar militärische Einrichtungen. Hier zeigt sich der ganze Zynismus der Hamas, die propagandistisch genau auf solche Bilder setzt. Sie sind Teil der medialen Kriegsführung.

Frage: Die Genfer Rotkreuz-Konventionen verbieten neben Angriffen auf Leib und Leben von Zivilpersonen, Tötungen, Verstümmelungen, entwürdigende Misshandlungen, die Gefangennahme von Geiseln und Hinrichtungen ohne vorhergehendes Urteil. Dagegen verstößt die Hamas mit ihren Geiselnahmen eindeutig. Wie steht es aber auf israelischer Seite mit der gezielten Tötung von Hamasführern?

Herdegen: Das Völkerrecht erlaubt, Kombattanten oder Kämpfer der Gegenseite anzugreifen. Es wäre irreführend, Parallelen zum Strafrecht zu ziehen. Auch der Schlag gegen Osama bin Laden war keine außergerichtliche Hinrichtung, sondern das Ausschalten einer Bedrohung in einem bewaffneten Kampf. Auch Zivilpersonen werden zum legitimen Angriffsziel, sobald sie sich an Kampfhandlungen beteiligen.

Zerstörtes Haus am 1. November 2023 im Kibbutz Kissufim (Israel) nahe des Gazastreifens durch einen Angriff der Terrororganisation Hamas.
Bild: © Andrea Krogmann/KNA

Zerstörtes Haus am 1. November 2023 im Kibbutz Kissufim (Israel) nahe des Gazastreifens durch einen Angriff der Terrororganisation Hamas.

Frage: Der Konflikt droht derzeit weiter zu eskalieren. So wird etwa von schweren Übergriffen von Siedlern auf Beduinen im Westjordanland berichtet. Wie bewerten Sie dies aus dem Blickwinkel des Völkerrechts?

Herdegen: Auch unter den Beduinen hat der Terrorangriff von Hamas Opfer gefordert. Ich würde aber die Situation in den besetzten Gebieten rechtlich von dem Gaza-Konflikt trennen. Wir gehen im Völkerrecht überwiegend mit dem Internationalen Gerichtshof davon aus, dass die Siedlungen rechtswidrig sind. Israel muss als Besatzungsmacht auch Schutz vor möglichen Übergriffen gewähren.

Israel hat im Gazastreifen anders als im Westjordanland nicht mehr den Status einer Besatzungsmacht, nachdem es sich 2005 zurückgezogen hat. Die außerordentlich problematische UN-Resolution vom 26. Oktober, die ohne Differenzierung zwischen Terrorangriff und Selbstverteidigung beide Seiten zur Waffenruhe aufruft, stuft Israel als Besatzungsmacht in Gaza ein. Nach meiner Meinung und der vieler Kollegen aber zu Unrecht.

Frage: Wer ist zuständig für die Dokumentation und Ermittlungen bei Völkerrechtsverstößen?

Herdegen: Der Internationale Strafgerichtshof, aber auch einzelne Unterzeichnerstaaten können hier Beweise sammeln, wie derzeit in der Ukraine. Israel hat allerdings nicht das Römische Statut über den Internationalen Strafgerichtshof ratifiziert. Bei Palästina ist der Beitritt umstritten, weil sein Status als Staat offen ist. Hält man den Beitritt dennoch für wirksam, dann könnten auch die Völkerrechtsverbrechen der Hamas in Den Haag landen.

Frage: Welche Möglichkeiten der Sanktionen gibt es?

Herdegen: Staaten können etwa Wirtschaftssanktionen verhängen. Die strafrechtlichen Sanktionen betreffen aber immer nur die individuelle Verantwortung, also einzelne Täter. Die Urteile bei der Aufarbeitung der Balkankriege, aber auch anderer Konflikte, sind hier bei aller Lückenhaftigkeit der Strafverfolgung ermutigend.

Datenbank zum humanitären Völkerrecht

Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz stellt die zentralen Dokumente zum humanitären Völkerrecht (IHL) in mehreren Sprachen zur Verfügung.

Mehr zum Thema