„Wahrheit und Gerechtigkeit müssen die Säulen der Friedenssicherung nach dem Krieg sein“

Justitia et Pax Europa: Russland zur Rechenschaft ziehen

Brüssel/Berlin ‐ Nach Ansicht der bischöflichen Kommission Justitia et Pax Europa muss Russland für den Krieg in der Ukraine zur Rechenschaft gezogen werden. Das erklärte die Organisation am Donnerstag in einer Pressemitteilung.

Erstellt: 09.12.2022
Aktualisiert: 21.04.2023
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„Wahrheit und Gerechtigkeit müssen die Säulen der Friedenssicherung nach dem Krieg sein“, heißt es in einer am Freitag in Berlin veröffentlichten Stellungnahme der Kommission anlässlich des Internationalen Tags der Menschenrechte (Samstag).

Die Opfer und die Öffentlichkeit haben laut Kommission ein Recht auf vollständige Aufklärung. Das bedeute, Kriegsverbrechen sowie Verstöße gegen Menschenrechte und das Völkerrecht zu dokumentieren und strafrechtlich zu verfolgen, auf nationaler und internationaler Ebene. Zudem müssten „die Täter“ für den Wiederaufbau der Infrastruktur in der Ukraine aufkommen, heißt es in der Stellungnahme.

Die Interimsvorsitzende von Justitia et Pax Europa, Cecile Dubernet, sagte: „Ziel muss eine neue europäische und globale Friedens- und Sicherheitsordnung sein, bei der der Schutz der Menschen, ihrer Rechte und des Gemeinwohls im Mittelpunkt stehen.“ Der Aufbau dieser neuen Ordnung dürfe nicht auf Kosten der Betroffenen geschehen.

Die Stellungnahme im Originaltext

Wahrheit und Gerechtigkeit – die Säulen eines Rechts der Friedenssicherung nach dem Krieg

Anlässlich des Tages der Menschenrechte am 10. Dezember 2022 stellt die Europäische Konferenz der Justitia et Pax-Kommissionen einige Überlegungen zu einem Recht der Friedenssicherung nach dem Krieg (ius post bellum) an.

Seit vielen Monaten wütet der Angriffskrieg der Russischen Föderation gegen die Ukraine. Er verstößt gegen das Völkerrecht. Aus großer Sorge um die Menschen, die unter diesem brutalen Krieg leiden, hat sich die Europäische Konferenz der Justitia-et-Pax-Kommissionen (Justitia et Pax Europa) wiederholt zu diesem brutalen Krieg geäußert(1) und nicht nur die russische Aggression, die Kriegsverbrechen und die zahllosen Menschenrechtsverletzungen verurteilt, sondern auch die politisch Verantwortlichen aufgefordert, eine Lösung für diesen Konflikt zu finden. Ein erstes Ziel muss sicherlich sein, die Waffen zum Schweigen zu bringen; darauf aufbauend müssen aber auch die Voraussetzungen für einen nachhaltigen und gerechten Frieden zwischen Russland und einer unabhängigen Ukraine sowie zwischen Russland und Europa geschaffen werden.

Der Menschenrechtstag 2022 ist für uns eine Gelegenheit, einige Gedanken zur notwendigen Sicherung des Friedens nach einem bewaffneten Konflikt zu äußern. Wir hoffen, dass die internationale Gemeinschaft es sich zur Aufgabe macht, neben dem bestehenden ius ad bellum und dem ius in bello ein völkerrechtlich verbindliches ius post bellum zu entwickeln.

Das Völkerrecht kennt noch kein explizites ius post bellum, aber es gibt ergiebige Quellen, aus denen die Staatengemeinschaft schöpfen könnte. Wir erinnern zum Beispiel an das Konzept der Schutzverantwortung (Responsibility to Protect), das in seinem umfassenden Verständnis auf drei Säulen beruht: der Verantwortung zur Prävention, zur Reaktion und zum Wiederaufbau. Auch die katholische Soziallehre kann einen wichtigen Impuls für die formale Entwicklung eines ius post bellum geben, insofern sie auf Wahrheit und Gerechtigkeit als Grundpfeiler für die Beilegung eines bewaffneten Konflikts besteht.

Wahrheit bedeutet in diesem Zusammenhang, dass zu Beginn von Friedensprozessen das vielfältige Leid der Menschen in den Blick genommen, aufgedeckt und artikuliert werden muss. Denn im Krieg geht es nicht nur um militärische Gewalt gegen Soldaten oder militärische Einrichtungen. Vielmehr führt uns der Krieg in der Ukraine einmal mehr schmerzhaft vor Augen, wie im Schatten von Kriegen Gewaltspiralen eskalieren. Die zahlreichen zivilen Opfer, schwerste Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen haben die Frage eines Genozids aufgeworfen. Die Dokumentation durch offizielle Ermittler, aber auch durch Open-Source-Intelligence (OSINT) ist entscheidend. Die Opfer und die Öffentlichkeit haben ein Recht auf vollständige Aufklärung; sie ist von zentraler Bedeutung, um den Boden für Frieden und Versöhnung zu bereiten. Deshalb müssen die Verantwortlichen für den Krieg benannt, Kriegsverbrechen und Verstöße gegen die Menschenrechte und das Völkerrecht dokumentiert und die Verantwortlichen identifiziert werden. In einem internen Konflikt kann diese Aufgabe einer unabhängigen Wahrheitskommission übertragen werden, möglicherweise unter einem UN-Mandat. Unter den gegebenen Umständen der russischen Aggression gegen die Ukraine ist ein vereinbartes rechtliches Verfahren sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene erforderlich. Es sollte die Ermittlung, Verurteilung und Bestrafung derjenigen umfassen, die für die Aggression und die Verletzung von Menschenrechten, Gesetzen und Kriegsbräuchen verantwortlich sind. Es reicht jedoch nicht aus, die Wahrheit herauszufinden.

Gerechtigkeit muss hergestellt werden. Die Verantwortlichen müssen zur Rechenschaft gezogen werden. Mit dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) hat die internationale Gemeinschaft zu diesem Zweck eine Institution geschaffen. Wir begrüßen, dass der Ankläger des IStGH bereits am 2. März eine Untersuchung der Situation in der Ukraine eingeleitet hat und seit dem 25. April mit dem von EUROJUST unterstützten internationalen Untersuchungsteam zusammenarbeitet.(2) Da das "Verbrechen der Aggression" nicht in die Zuständigkeit des IStGH fällt, unterstützen wir die Forderung des Europäischen Parlaments vom 19. Mai nach der Einrichtung eines internationalen Sondergerichtshofs, der von den Vereinten Nationen unterstützt wird, um dieses Verbrechen zu untersuchen und zu verfolgen. Auch das Ministerkomitee des Europarates hat in einem Beschluss vom 15. September die Notwendigkeit eines umfassenden Mechanismus zur Verfolgung der russischen Aggression zum Ausdruck gebracht. Wir begrüßen es auch, dass das Europäische Parlament am 23. November Russland zu einem staatlichen Sponsor des Terrorismus erklärt hat. Leider müssen wir auch feststellen, dass der IStGH aktuell ein stumpfes Schwert ist, da seine Durchsetzungsbefugnis dadurch blockiert wird, dass wichtige Staaten sich weigern, ihn anzuerkennen. Die Akzeptanz eines wirksamen ius post bellum hängt nicht zuletzt davon ab, dass sich die Verantwortlichen für Leid und Verbrechen vor einem internationalen Gericht verantworten müssen. Aber das ist natürlich nur die eine Seite der Gerechtigkeit. Auf der anderen Seite ist es eine gerechte Forderung, dass der Wiederaufbau bzw. die Widerherstellung von Infrastruktur und anderem Zerstörten nicht von den Opfern eines bewaffneten Konflikts, sondern von den Tätern getragen werden muss. Auch hier müsste ein völkerrechtlich verankertes Nachkriegsrecht die entsprechenden Verfahren festlegen. Es könnte den Grundsatz der universellen Gerichtsbarkeit und die konsequente Verfolgung und Bestrafung von Straftätern in jedem Land, das sie ergreifen kann, umfassen.

Es gibt noch eine Reihe weiterer Fragen, die im Rahmen eines echten ius post bellum zu behandeln sind. In Bezug auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine sind folgende Punkte zu nennen: Es muss ein System zur Wiedergutmachung der materiellen Schäden eingerichtet werden und die künftige Rolle Russlands in der internationalen Gemeinschaft sollte von der Einhaltung der Vorschriften abhängig gemacht werden. Am 30. November schlug der Präsident der Europäischen Kommission vor, die im Rahmen der EU-Sanktionen eingefrorenen russischen Vermögenswerte zu beschlagnahmen und sie zur Finanzierung des kostspieligen Wiederaufbaus der Ukraine zu verwenden. Darüber hinaus müssen neue Anstrengungen unternommen werden, um an einem kooperativen Sicherheitsmodell zu arbeiten, bei dem der Schutz der Menschen, ihrer Rechte und des Gemeinwohls im Mittelpunkt steht und nicht staatliche machtpolitische Partikularinteressen. Es liegt auf der Hand, dass ein europäisches Sicherheitsmodell Teil einer erneuerten globalen Sicherheitsarchitektur sein muss. Und schließlich ist eine ernsthafte Abrüstungsdebatte dringend erforderlich - insbesondere im Hinblick auf Atomwaffen. Ein ius post bellum würde unserer Welt die Hoffnung geben, von einer reinen Nachkriegsordnung zueiner echten Friedensordnung überzugehen.

Abschließend möchten wir betonen, dass ein ius post bellum nicht gleichbedeutend mit einem nachhaltigen und gerechten Frieden ist. Vielmehr bildet es die Grundlage, auf der Friedens- und Versöhnungsprozesse eingeleitet werden können. Papst Franziskus hat in seiner Enzyklika Fratelli tutti diesen Zusammenhang deutlich hervorgehoben: "Es geht nicht darum, auf unsere eigenen Rechte zu verzichten und Vergebung für einen korrupten Machtinhaber, einen Kriminellen oder jemanden, der unsere Würde herabsetzt, vorzuschlagen. Wir sind gerufen, ausnahmslos alle zu lieben, aber einen Unterdrücker zu lieben bedeutet nicht, zuzulassen, dass er es weiter bleibt; es bedeutet auch nicht, ihn im Glauben zu belassen, dass sein Handeln hinnehmbar sei. Ihn in rechter Weise zu lieben bedeutet hingegen, auf verschiedene Weise zu versuchen, dass er davon ablässt zu unterdrücken; ihm jene Macht zu nehmen, die er nicht zu nutzen weiß und die ihn als Mensch entstellt. Vergeben heißt nicht, zuzulassen, dass die eigene Würde und die Würde anderer weiterhin mit Füßen getreten wird oder dass ein Krimineller weiterhin Schaden anrichten kann. Wer Unrecht erleidet, muss seine Rechte und die seiner Familie nachdrücklich verteidigen, eben weil er die ihm gegebene Würde schützen muss, eine Würde, die Gott liebt. Wenn ein Verbrecher mir oder einem geliebten Menschen Schaden zugefügt hat, kann mir niemand verbieten, Gerechtigkeit zu fordern und dafür Sorge zu tragen, dass diese Person – oder irgendjemand anders – mir oder anderen nicht wieder Schaden zufügt. Das ist mein Recht, und Vergebung negiert diese Notwendigkeit keineswegs, sondern verlangt sie sogar." (Nr. 241) In der Tat setzt die Vergebung das Eingeständnis von Schuld und die Bereitschaft zur Vergebung voraus. Sie erfordert Begegnung und Dialog. Sie setzt den Willen voraus, im anderen nicht den Feind, sondern den Mitmenschen zu sehen. Vor allem aber braucht es Geduld und Zeit, denn Friedens- und Versöhnungsprozesse sind Aufgaben für Generationen.

9. Dezember 2022,

 Das Exekutivkomitee von Justitia et Pax Europa

Fußnoten

1 Siehe die Erklärung der Generalsekretäre (http://www.juspax-eu.org/en/dokumente/220225-JPE-ExCo-Ukraine.pdf ); und des Exekutivkomitees (http://www.juspax-eu.org/en/dokumente/220515-Statement-of-JPEurope-on-War-in-Ukraine.pdf ).

2 Das internationale Untersuchungsteam wurde von Litauen, Polen und der Ukraine gegründet. Estland, Lettland, die Slowakei und etwas später Rumänien haben sich angeschlossen.

KNA/weltkirche.de/Justitia et Pax

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