Burundis Krisen des 20. Jahrhunderts sind nicht ausgestanden
Bonn/Gitega ‐ Staatskrisen und ethnische Spannungen haben Burundi geprägt. Der 60. Jahrestag der Unabhängigkeit wirft ein Schlaglicht auf die Probleme in Ostafrika - deren Wurzeln schon weit vor dem Genozid in Ruanda 1994 liegen.
Aktualisiert: 06.02.2023
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Hass und Rivalitäten sind in Burundi wie im benachbarten Ruanda schon häufig eskaliert – und sie dauern bis heute an. Dabei kann die tägliche Not eigentlich nicht noch zusätzlich ethnische Gewalt gebrauchen. Es ist schön in Burundi, dem kleinen fruchtbaren Hügelland im Osten Afrikas. Die rote Erde, die fröhlichen Menschen könnten den Betrachter einlullen in ein vermeintliches Idyll – wüsste man nicht um die Riesenprobleme: dramatische Überbevölkerung, bitterste Armut, Flüchtlingselend, Bildungsnotstand, ethnische Dauerfehden, Rechtlosigkeit und Rachegefühle.
1962 beschloss die UNO, die benachbarten Ruanda und Burundi zum 1. Juli als separate Nachfolgestaaten des einst deutschen (Deutsch-Ostafrika, 1890-1916) und danach belgischen Mandatsgebietes Ruanda-Urundi in die Unabhängigkeit zu entlassen. Da waren die ethnischen Spannungen zwischen Hutu und Tutsi schon im Gange. Noch am Tag der staatlichen Unabhängigkeit zerbrach die burundische Regierungspartei in jene beiden Lager, die dem Land zum Schicksal werden sollten: gemäßigte prowestliche Tutsi und Hutu einerseits und radikale Tutsi andererseits.
Ende 1966 putschte das Militär unter General Michel Micombero gegen den erst 18-jährigen König Ntare V. Micombero und rief die Republik aus. Doch nicht Demokratie strebte der Tutsi-Nationalist an, sondern eine Beseitigung aller Hutu aus der Spitze von Verwaltung, Armee und Polizei.
Die Lage eskalierte, als der entmachtete König Ntare V. im März 1972 aus dem Exil zurückkehrte. Seine Motive sind unklar; jedenfalls wurde er verhaftet. Es folgten Massenverhaftungen von Hutu, die in einen Aufstand mündeten. Das Militär unter Micombero behielt im sich entfesselnden Bürgerkrieg die Oberhand und ließ den König ermorden.
Im Laufe des Jahres 1972 massakrierte die Armee in Burundi geschätzt 100.000 bis 250.000 Hutu, weitgehend unbeachtet von der westlichen Öffentlichkeit. Die gesamte Bildungs- und politische Elite der Hutu war tot oder geflohen. Micombero hielt sich noch bis 1976 – dann wurde auch er von Obristen weggeputscht.
Im benachbarten Ruanda waren die ethnischen Verhältnisse umgekehrt, die Frontstellungen aber dieselben: zwei rivalisierende Volksgruppen, zusätzlich verstrickt in Stellvertreterkonflikte des Kalten Krieges. Auch die sogenannte erste Republik in Ruanda (1962-1973) wurde von Mordwellen an Tutsi, Flucht und Vertreibung geprägt. Viele Tutsi lebten über Jahrzehnte in Nachbarländern.
Im Gedächtnis der Hutu in Ruanda blieb das Tutsi-Massaker von 1972 an den Hutu im Nachbarland Burundi als Fanal haften. Als dann Exil-Ruander Anfang der 90er Jahre den Norden des Landes angriffen, um die Rückkehr von Tutsi-Flüchtlingen zu ermöglichen, sahen radikale Hutu ihre Stunde der Rache gekommen.
In Burundi wurde 2005 in der ersten freien Wahl überhaupt Pierre Nkurunziza, ein früherer Rebellenführer, zum Präsidenten gewählt. Über Jahre hielt der Hutu das Land auf einem leidlich stabilen Kurs – regierte dabei aber zunehmend autoritär. Nach den Wahlen im Mai 2020 trat der 56-Jährige ab – und erlag wenige Tage danach dem Corona-Virus. Seitdem regiert sein Vertrauter Evariste Ndayishimiye (54), ein Ex-General.
Burundis Erde ist sehr fruchtbar, aber schlicht zu knapp. Fast die Hälfte der Bevölkerung ist unter 15 Jahre alt; das Durchschnittsalter liegt bei spektakulären 16,7 Jahren. Durch den rasanten Bevölkerungszuwachs von drei Prozent jährlich werden die Ackerflächen noch kleiner. Wilde Abholzung sorgt für Erosion, die Äcker und Straßen zerstört. 2019 lag Burundi im Human Development Index auf Platz 185 – von 189 Ländern.
2007 wurden alle 400.000 Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem benachbarten Tansania zurückgeschickt; eine zusätzliche Belastungsprobe. Die Rückkehrer erhielten kaum Eingliederungshilfen. Ihre Äcker bearbeiteten nun freilich andere; Grundbücher gibt es nicht.
Trotz der Produktion von Maniok, Mais, Bananen und Süßkartoffeln rangiert das Land bei der Nahrungsmittelversorgung auf den hinteren Rängen. Burundi hat weder nennenswerte Industrie noch einen Dienstleistungssektor. Zwar gibt es etwa große Nickel-Vorkommen. Doch hat das Land nicht die Mittel, die Investitionen zum Abbau selbst aufzubringen.
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In Burundi war 1993 der erste Hutu-Präsident überhaupt ermordet worden, Melchior Ndadaye; angehörige der Hutu-Minderheit rächten sich mit Massakern an Tutsi. Und in Ruanda wurde nach dem Abschuss der Präsidentenmaschine über der Hauptstadt Kigali im April 1994 – die Regierungschefs beider Länder waren an Bord – über vereinbarte Signale im Rundfunk das Monster entfesselt. Der Völkermord in Ruanda mit bis zu 800.000 Toten – zumeist Tutsi und gemäßigte Hutu – zählt zu den größten Schrecken des 20. Jahrhunderts.
Weitere gravierende Probleme sind Bildung und Gesundheit. Zwar engagiert sich die katholische Kirche, der rund zwei Drittel der Burundier angehören, stark im Schulwesen. Ihre Schulen, Kindergärten und Wohlfahrtseinrichtungen gehören zum wenigen Verlässlichen im Land.
Bizarr: Echte Sicherheit, wer Hutu ist und wer Tutsi, kann es in Burundi gar nicht geben. Die gängigen Zahlen, nach denen 85 Prozent der „Nation" Hutu und 14 Prozent Tutsi seien, stammen noch aus der belgischen Kolonialzeit. Zudem basiert jede solche Zählung auf einer Fiktion: der Vererbung der Ethnie durch den Vater. Aber: Mit leichtfertiger Rhetorik könnten unverantwortliche Politiker wahrscheinlich jederzeit einen neuerlichen Bürgerkrieg triggern.
Burundi
Die kleine Republik Burundi im Osten Afrikas ist stark agrarisch geprägt. Das zwischen Ruanda, Tansania und der Demokratischen Republik Kongo gelegene Land von der Größe Brandenburgs erlebte in den 1970er Jahren sowie 1993 bis 2003 blutige Bürgerkriege zwischen den Bevölkerungsgruppen der Hutu und Tutsi. Allein bei dem zweiten starben bis zu 250.000 Menschen; auf dem Höhepunkt waren laut Schätzungen 1,3 Millionen Menschen auf der Flucht.
Als 2015 der damalige Präsident Pierre Nkurunziza verfassungswidrig für eine dritte Amtszeit kandidierte, eskalierte die Gewalt im Land erneut. Binnen eines Jahres flohen nach UN-Angaben fast 260.000 Menschen. In einem Klima von Einschüchterung und Gewalt fand 2018 ein umstrittenes Verfassungsreferendum statt, das Nkurunziza ein Weiterregieren bis 2034 ermöglicht hätte. Seit Nkurunzizas Tod im Juni 2020 regiert dessen Vertrauter Evariste Ndayishimiye (54), ein Ex-General.
Industrie- und Dienstleistungssektor sind trotz Bodenschätzen wie Nickel, Kobalt, Uran, Kupfer, Platin und Gold kaum ausgebildet. Zwar ist Burundis Boden sehr fruchtbar, doch fehlen die Eigenmittel für eine Modernisierung der Landwirtschaft. Zudem reichen die Ackerflächen wegen der rasant wachsenden Bevölkerung, derzeit geschätzt 11,5 Millionen Einwohner, wegen Erbteilung, Bodenerosion sowie der Rückkehr von Flüchtlingen längst nicht mehr aus.
Mit den einstigen Kolonialmächten Deutschland (1890-1916) und Belgien (1916-1962) wurde der Katholizismus zur Mehrheitsreligion in Burundi. Heute sind knapp zwei Drittel der Burundier katholisch. Offizielle Hauptstadt Burundis ist seit Ende 2018 die kleine frühere Königsstadt Gitega im Zentrum des Landes; sie ist auch Sitz eines Erzbischofs. Zuvor war es das große Wirtschaftszentrum Bujumbura am Tanganjika-See im Westen.
Alexander Brüggemann/KNA