„Wir müssen das schaffen!“
Haiti ‐ Haiti, ein halbes Jahr nach Hurrikan Matthew: Ernteausfälle, Trockenheit und Krankheiten lassen die Menschen weiter leiden. Ein Bericht von Adveniat.
Aktualisiert: 15.11.2022
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Bis zur nächsten Straße sind es gut 75 Minuten. Zu Fuß, auf einem schmalen, steilen Trampelpfad. Das kleine Dorf Plingue, im Westen Haitis, liegt - etwa 20 Kilometer von der Stadt Jérémie entfernt - auf einem 180 Meter hohen Berg. Malerisch, könnte man meinen. Denn von einer Anhöhe aus ist das türkis leuchtende Karibische Meer zu sehen, der Sehnsuchtsort unzähliger Badetouristen. Aber genau diese Lage wurde Plingue zum Verhängnis, als vor einem halben Jahr, am 4. Oktober 2016, Hurrikan Matthew über die Insel zog und große Teile von Haiti fast vollständig zerstörte.
„Es war einfach alles weg“, erzählt Jean Daniel, ein 43-jähriger Bauer. Gut zwölf Stunden hatte der Hurrikan über Plingue gewütet. Familien kauerten in ihren einfachen Hütten am Boden, hielten sich gegenseitig fest und bangten um ihr Leben. Als der Sturm abgeklungen war, standen die Menschen im Westen Haitis vor dem Nichts. Die Hütten zerstört, die Bäume entwurzelt, die Felder leergefegt als hätte ein gewaltiger Staubsauger alles aufgenommen. „Unsere Kühe, die Hühner, Ziegen und Esel wurden einfach weggerissen“, sagt ein Nachbar von Jean Daniel. „Sie wurden wahrscheinlich einfach aufs offene Meer gesogen und jetzt haben wir hier nichts mehr.“
Die rund 150 Bewohner von Plingue stehen in einer großen Traube vor einer notdürftig errichteten Hütte. Sie ist Kirche, Gemeindezentrum und an diesem Tag auch Krankenstation. Denn Schwester Mirca Cinea vom brasilianischen Orden Irmãs do Imaculado Coração de Maria (Schwestern vom unbefleckten Herzen Mariens), den das Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat bei seiner Arbeit unterstützt, ist mit ihren Helferinnen aus Jérémie in das kleine Bergdorf gekommen. Die Menschen warten geduldig, eine erstaunliche Ruhe liegt über der Dorfgemeinschaft. In der Hütte werden die Dorfbewohner medizinisch untersucht. Auf dem Boden steht eine Waage – sie geht bei ausgewachsenen Männern kaum über die 65-Kilo-Marke. Dazwischen wird der Blutdruck gemessen und bei verdächtigen Symptomen ein Cholera-Schnelltest gemacht.
Ernteausfälle von mindestens einem Jahr
Schwester Mirca wirkt besorgt. „In dieser Gegend haben wir Ernteausfälle von mindestens einem Jahr. Viele Menschen hier oben leiden Hunger und sind zum Teil schon zu schwach für den beschwerlichen Fußmarsch ins Tal, um Wasser zu holen.“ Dem Dorf sind ein paar abgemagerte Esel geblieben, mit denen die schweren Wasserkanister nach oben transportiert werden können. Die meiste Last tragen die Menschen selbst, insbesondere die jüngeren, die sich barfuß oder in ausgetretenen Flipflops den Trampelpfad hochschleppen.
Aber die Natur scheint sich das Land wieder zurück zu holen. An den Spitzen der Palmen, die nach dem Hurrikan das bizarre Bild von schief stehenden Säulen boten, keimen wieder die ersten grünen Blätter. An einigen Stellen, geschützt vom Schatten weniger Büsche und Sträucher, werden wieder Beete angelegt, in denen zarte Pflänzchen gegen die starke Trockenheit kämpfen. Denn seit „Matthew“ hat es in der Region kaum geregnet.
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Untrügliche Zeichen der Unterernährung bei Kindern
In der provisorischen Krankenstation geht es nur langsam vorwärts, denn eigentlich fehlt es den Bewohnern von Plingue hier oben auf dem Berg an fast allem. Die Haare der Kinder zeigen durchgehend blond-rötliche Verfärbungen – untrügliche Anzeichen für Unter- und Mangelernährung, Durchfallerkrankungen, Entzündungen, Zahnschmerzen. Schwester Mirca und ihre Helferinnen hören den Bewohnern von Plingue zu und versuchen, die mitgebrachten Medikamente sinnvoll zu verteilen.
Die Helferinnen haben auch ein Paar Säcke Reis und Bohnen mitgebracht, in großen Kartons liegen überdies Hosen, Röcke, T-Shirts und Schuhe bereit. Zusammen mit den wenigen noch einigermaßen kräftigen Dorfbewohnern haben Mirca und ihre Begleiterinnen die Hilfsmittel nach Plingue getragen. „Die Menschen jammern kaum, obwohl sie viele Gründe hätten“, erklärt die Ordensschwester. „Sie werden ihre Hütten aufbauen und die Felder wieder bestellen, aber im Moment kommen sie ohne Hilfe nicht zurecht.“
Hilfe, die vornehmlich von außen kommt. Der kleine Inselstaat leidet nicht nur unter den katastrophalen politischen Verfehlungen der zurückliegenden Jahrzehnte, er wird auch regelmäßig von Naturkatastrophen heimgesucht. „Seit dem verheerenden Erdbeben 2010 haben wir 708 Projekte mit Spendengeldern in Höhe von 14,3 Millionen Euro gefördert“, sagt Margit Wichelmann, Haiti-Referentin bei Adveniat. Hurrikan Matthew hat die große Not nach dem Erdbeben, dessen Auswirkungen bis heute zu spüren sind, weiter verstärkt.
Das Lateinamerika-Hilfswerk hat die Haitianische Bischofskonferenz beim Aufbau eines Wiederaufbaubüros unterstützt, das sicherstellt, dass sämtliche kirchlichen Bauwerke erdbeben- und hurrikansicher gebaut werden. „Dies ist überlebensnotwendig, weil sich die Menschen bei jedem Erdbeben und jedem Wirbelsturm in Kirchen und kirchliche Einrichtungen flüchten“, erklärt Adveniat-Expertin Margit Wichelmann. „Möglichst keine Opfer mehr in kirchlichen Gebäuden lautet unsere gemeinsame Maßgabe.“
„Wir schaffen das!“, sagt Schwester Mirca und man fragt sich unweigerlich, warum gerade dieser Satz bei uns in Deutschland zu solch hässlichen Kontroversen geführt hat. „Wir müssen das schaffen, die Menschen hier haben keine andere Wahl.“ Mirca lächelt, obwohl sie nach ihrem gut zehnstündigen Einsatz in Plingue einfach nur erschöpft sein dürfte. „Morgen geht es weiter!“, sagt die Schwester. Sie hat sechs Monate nach Hurrikan Matthew noch einiges zu schaffen.
Von Michael Gösele
© Adveniat