Justitia et Pax zu Ende des INF-Vertrags: „Lage bedrohlicher als im Kalten Krieg“

Justitia et Pax zu Ende des INF-Vertrags: „Lage bedrohlicher als im Kalten Krieg“

Deutsche Kommission Justitia et Pax ‐ An diesem Freitag läuft voraussichtlich der INF-Vertrag zur Abschaffung atomarer Mittelstreckenwaffen auf europäischem Boden aus. Das Misstrauen zwischen den Atommächten USA und Russland ist groß. Nach Einschätzung von Prof. Dr. Heinz-Günther Stobbe, Moderator der AG „Gerechter Friede“ der Deutschen Kommission Justitia et Pax, ist die Situation sogar bedrohlicher als im Kalten Krieg. Nicht zuletzt deshalb fordert die Organisation eine umfassende Ächtung von Atomwaffen weltweit.

Erstellt: 31.07.2019
Aktualisiert: 14.02.2023
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Frage: Prof. Stobbe, die Deutsche Kommission Justitia et Pax hat im Juni ein neues Positionspapier zur Ächtung von Atomwaffen herausgegeben. Wie ernst sehen Sie die Lage, dass Sie sich zu einer neuen Stellungnahme und Aktualisierung der letzten Bewertung von 2008 genötigt sehen?

Prof. Heinz-Günther Stobbe: Der Hauptanstoß kam von Papst Franziskus bzw. dem Heiligen Stuhl, der sich seit längerem im Rahmen der Vereinten Nationen mit dem Thema beschäftigt. Der Papst hat Ende 2017 eine Abrüstungskonferenz nach Rom einberufen. Dabei hat er erklärt, der Heilige Stuhl halte die nukleare Abschreckung für nicht mehr ethisch akzeptabel. Das hat uns Anlass gegeben, uns als kirchliche Organisationen mit dieser Thematik zu befassen.

Frage: Anlass für eine Neubewertung der Lage gibt sicher auch der US-amerikanische Präsident Donald Trump, dem man nachsagt, immer einen „Atom-Koffer“ bei sich zu tragen und der wichtige Fortschritte wie den Atom-Deal mit dem Iran aufkündigt. Ist das Angstmache oder sehen Sie in seiner Politik eine echte Bedrohung für den Weltfrieden?

Stobbe: Diese Entwicklungen beunruhigen uns ganz stark. Man muss aber dazu sagen, dass das Problem nicht nur Herr Trump ist. Es wäre falsch, wenn nicht gar gefährlich, sein Handeln nicht in eine viel breiter angelegte Entwicklung einzubetten. Für uns in Europa wiegt viel schwerer die Aufkündigung des INF-Vertrags, der Russland gefolgt ist. Die USA werfen Russland vor, ihn bereits durch die Stationierung neuer Mittelstreckenwaffen gebrochen zu haben. Man weiß, um welche Waffen es da geht, und wenn sie tatsächlich da stationiert sein sollten, wo man sie vermutet, nämlich in der Gegend von Kaliningrad, dann könnten diese Atomraketen ganz Westeuropa erreichen.

Hinzu kommt, dass eine ganze Reihe anderer Abkommen, die mit nuklearer Rüstungskontrolle zusammenhängen, ins Wanken geraten sind. Das betrifft nicht zuletzt die Frage zur Zukunft des Atomwaffensperrvertrages. Die Atomwaffenstaaten hatten sich in Abschnitt 6 dieses Vertrages dazu verpflichtet, ihre Atomwaffen mittelfristig abzubauen. Infolge der Entspannung nach dem Kalten Krieg wurde tatsächlich enorm abgerüstet. Die USA und Russland hatten zu Hochzeiten des Kalten Krieges jeweils um die 70.000 Atomwaffen, jetzt besitzen sie jeweils 6.000 bis 7.000. Aber sie haben an der Strategie der nuklearen Abschreckung im Prinzip ohne jede Änderung festgehalten.

Frage: Wie gehen Länder damit um, die keine Atomwaffen besitzen?

Stobbe: Das verstimmt die anderen Länder natürlich. Deswegen haben einige dieser Staaten in der UN die Initiative eines Atomwaffenverbotsvertrags bzw. einer völkerrechtlichen Ächtung von Atomwaffen gestartet. Den haben inzwischen 122 Staaten unterzeichnet und etwa 50 ratifiziert. Aber die Atomwaffenstaaten weigern sich konstant, sich an dieser Verbotsinitiative zu beteiligen. Deshalb hat sich hier der Papst so deutlich zu Wort gemeldet. Von den drei Kategorien der Massenvernichtungswaffen sind nur zwei, also biologische und chemische Waffen verboten. Atomwaffen sind davon völlig unberührt. Das ist widersinnig und untragbar. Man müsste in einem umfassenden Paket alle drei Kategorien strikt verbieten!

Frage: Wie sicher ist so ein Verbot?

Stobbe: Wenn wir nach Syrien blicken: Dort hat es wohl mehrfach den Einsatz von Chemiewaffen gegeben. Und auch der Irak hat zu Zeiten Saddam Husseins nachweislich Chemiewaffen gegen die Kurden eingesetzt und Tausende Menschen umgebracht. Die Tatsache, dass die Waffen völkerrechtlich verboten sind, bietet also noch keine sichere Gewähr, dass die verbotenen Waffen wirklich abgeschafft werden und nicht zum Einsatz kommen. Staaten könnten sich heimlich welche beschaffen. Das ist eines der größten Bedenken derer, die an der atomaren Abschreckung festhalten wollen. Sie sagen, das ließe sich im Endeffekt nicht kontrollieren: Die eine Seite rüstet ab und die andere bunkert die Waffen heimlich und man hätte bei deren Einsatz nichts entgegenzusetzen.

Bild: © Justitia et Pax

„Besonders im Bereich der seegestützten Atomraketen wird erheblich aufgerüstet.“

—  Zitat: Prof. Heinz-Günther Stobbe, Deutsche Kommission Justitia et Pax.

Frage: Wie nah oder fern sind Sie Ihrer Einschätzung nach dem Ziel der vollumfänglichen, völkerrechtlichen Ächtung von Atomwaffen?

Stobbe: Das ist keine Sache von heute oder morgen. Das ist ein ganz dickes Brett, was da gebohrt werden muss. Momentan muss man nüchternerweise sagen, dass es kein Anzeichen dafür gibt, dass die Atommächte, insbesondere USA und Russland, bereit sind, mitzuziehen. 92 Prozent der jetzt vorhandenen strategischen Nuklearwaffen befinden sich in den Händen der USA und Russlands. Daran gemessen sind Frankreich, Großbritannien und auch China atomare Zwerge. Bei den beiden atomaren Supermächten bewegt sich zurzeit überhaupt nichts. Man hat vielmehr den Eindruck, dass sie dabei sind, die Rüstungskontrollsysteme im nuklearen Bereich abzubauen, zu kündigen und auslaufen zu lassen.

Frage: Ist die Hemmschwelle zu einem wirklichen Einsatz gesunken?

Stobbe: Ja, das ist die bedenklichste Entwicklung. Es gibt in der Tat eine ganze Reihe von Entwicklungen, die darauf hinauslaufen, dass dieses ganze System brüchig wird. Ein Beispiel. Der INF-Vertrag hat die europäischen Mittelstreckenwaffen, also eine ganze Waffengattung, abgeschafft. Das war historisch einmalig. Aber dieser Vertrag hat immer nur die landgestützten Mittelstreckenwaffen berücksichtigt. Das heißt, schon parallel zum geltenden INF-Vertrag haben die Atommächte bereits see- und luftgestützte Atomwaffen beibehalten. Da rüsten sie erheblich auf, insbesondere im Bereich der seegestützten Atomraketen.

Frage: Sie sprechen hier vorwiegend von den USA und Russland?

Stobbe: Vor allem, aber in diesem Bereich ist auch China stark dabei. Die Chinesen wollen sich die Möglichkeit offenhalten, von der See aus mit Atomraketen jeden potenziellen Gegner angreifen zu können. Das ist insbesondere deswegen besonders brisant, weil man bei diesen Raketensystemen aus der Luft nicht mehr erkennen kann, mit welcher Art von Bomben sie konkret ausgerüstet sind. Als Beobachter kann man nur feststellen: Da gibt es einen Kreuzer im Meer, der taucht vielleicht vor dem Iran auf, die haben Lenkwaffen an Bord, sogenannte Tomahawk-Raketen. Diese können aber sowohl konventionell als auch nuklear ausgestattet werden. Niemand kann das im Augenblick zuverlässig feststellen. Das schafft natürlich eine enorme Unsicherheit. Die Situation ist tatsächlich derzeit sehr viel bedrohlicher als in all den Jahren des Kalten Krieges.

„Das System der nuklearen Rüstungskontrolle gerät ins Wanken.“

—  Zitat: Prof. Heinz-Günther Stobbe, Deutsche Kommission Justitia et Pax.

Frage: Im aktuellen Positionspapier beklagt Justitia et Pax eine Kultur des Misstrauens in der internationalen Politik. Wie kann hier - auch im Sinne der Friedensethik - wieder Vertrauen geschaffen werden?

Stobbe: Die diplomatischen Beziehungen müssen wieder gestärkt werden – und zwar jene im klassischen Sinne. Das heißt nicht, dass man sich dauernd gegenseitig beleidigt und bedroht, mit dem Ziel, den Gegenspieler zu erpressen. Das macht Trump mit Begeisterung und davon muss man wegkommen. Das führt zu gar nichts. Die internationale Politik wird nur viel unberechenbarer. Länder, die sich durch diesen übermächtigen Gegner USA unter Druck gesetzt fühlen, orientieren sich jetzt an anderen Mächten. Das sehen wir auch in Europa am Beispiel Ungarn oder Griechenland, die sich weder an den USA noch an Russland orientieren, sondern ihre Fühler nach China ausstrecken. China gibt das immer als partnerschaftliche Beziehung zum Wohle beider Seiten aus. Aber sobald China seine Interessen gefährdet sieht, erpresst es solche kleineren Staaten. Das führt dazu, dass Griechenland und Ungarn bestimmte Beschlüsse der Europäischen Union nicht mehr mittragen.

Frage: Was kann die Zivilgesellschaft tun? Ist sie vor diesen Entwicklungen ein Stück weit machtlos?

Stobbe: Ich habe nie geglaubt, dass ich etwas wie die Vereinigung Deutschlands erleben würde. Trotzdem ist es passiert. Mit anderen Worten: Man darf damit rechnen, dass doch etwas Unerwartetes passiert. Aus der Erfahrung des Mauerfalls haben wir überdies gelernt, dass immer mehrere Komponenten mit hineinspielen: Der Kalte Krieg wäre nicht ohne die Figur Gorbatschow zu Ende gegangen. Aber auch nicht ohne bestimmte Entwicklungen in der Sowjetunion. Und ein wichtiger Faktor waren eben auch die zivilgesellschaftlichen Bewegungen. Das bedeutet für heute – und das sehe ich als Teil unserer Aufgabe als Deutsche Kommission Justitia et Pax: Kirche muss als Teil der Zivilgesellschaft ihre Möglichkeiten nutzen, um Entwicklungen zu fördern, die aus dieser Krise wieder herausführen könnten.

„Auch wenn sich die Atommächte noch querstellen - wir werden nicht nachlassen!“

—  Zitat: Prof. Heinz-Günther Stobbe, Deutsche Kommission Justitia et Pax.

Frage: Wie sieht das für Sie konkret aus?

Stobbe: Im Herbst veranstaltet die Deutsche Kommission Justitia et Pax in Berlin zwei Gespräche. Das erste mit Parlamentariern, die zweite mit Angehörigen der Bundeswehr. Voraussichtlich werden Mitglieder der Kommission auch Nato-Angehörige in Brüssel treffen. Und natürlich gehen wir auf unsere katholischen Partner zu. Mein Traum wäre, dass wir über diese Angelegenheiten mit den amerikanischen Katholiken in ein engeres Gespräch kommen. Ohne die US-Amerikaner kommen wir sonst nicht weiter.

Frage: Welche Erwartungen haben Sie an die Nato, wenn da auch Gespräche anstehen?

Stobbe: Ich denke, das wird ein außerordentlich freundliches Gespräch. Die Erfahrung habe ich auch mit Angehörigen der Bundeswehr gemacht. Die sind schon ernsthaft an dem Thema interessiert, weil sie zum Teil besser wissen, wovon wir da sprechen. Aber auf der anderen Seite ist völlig klar, dass in einem solchen Gespräch niemand die offizielle Doktrin der Nato in Frage stellen wird, dass man, solange es Atomwaffen gibt, an der Strategie der nuklearen Abschreckung festhält.

Frage: Was entgegnen Sie dann?

Stobbe: Wir sagen, wenn man so argumentiert, wird es die nukleare Abschreckung auf ewig geben und das ist nicht tolerierbar. Deswegen muss man sagen: Wir wollen gemeinsam diese Atomwaffen verbieten. Wenn alle den Verbotsvertrag unterzeichnet und ratifiziert haben, fängt die Mühsal von konkreten Abrüstungsverhandlungen und -maßnahmen sowie Kontrollregimen an, die gewährleisten, dass dieser Vertrag nicht nur auf dem Papier besteht. So kann wenigstens verhindert werden, dass große Atomwaffenarsenale unbeobachtet und unkontrolliert entstehen können. Auch wenn sich da Atommächte wie Israel noch querstellen – dessen Verzicht auf seine Atomwaffen käme einem Wunder gleich – wir werden nicht nachlassen!

Das Interview führte Claudia Zeisel.

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