Geflüchtete Frauen im Libanon: Eine für Alle

Geflüchtete Frauen im Libanon: Eine für Alle

Reportage ‐ In ihrer Reportage beschreibt Helene Susanne Kaiser die Situation von geflüchteten Frauen im Libanon, die sich gegenseitig helfen - und dabei von Misereor-Projektpartnern unterstützt werden.

Erstellt: 07.03.2020
Aktualisiert: 17.02.2023
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Sie reißt kleine Streifen aus Brot und formt sie zu Schrimps. Ihre Enkeltöchter schauen gebannt zu, als Großmutter Helene zu den wenigen Alltagsgegenständen greift, die der Familie noch geblieben sind - ein Stift, ein Feuerzeug, ein Löffel - und so tut, als würde sie Ketchup, Mayonnaise, Salz und Pfeffer über die Schrimps geben. Sorgfältig wickelt sie alles im letzten Brot zusammen und reicht es den Mädchen. Es sollte das beste Sandwich werden, dass Merly und Lory je gegessen haben. Es sind kleine Geschichten wie diese, die für Menschen im Krieg überlebenswichtig sind, die ihnen helfen den Mut nicht zu verlieren. Manchmal werden sie noch über Generationen weitererzählt.

Drei Jahre lange kümmerte sich Helene Mekhijan im syrischen Krieg ganz alleine um ihre Enkeltöchter. Die Mutter der beiden war 2011 in den Libanon geflüchtet, ohne die Kinder. „Meine Tochter Hasmig war so schwer traumatisiert und depressiv, dass sie nicht mehr für ihre eigenen Töchter sorgen konnte und schnell aus Syrien weg musste. Es war schrecklich für mich, sie so hilflos zu sehen“, so berichtet Helene, wie damals der Bürgerkrieg nach Aleppo kam. Hasmig holte gerade ihre dreijährige Tochter Lory aus dem Kindergarten, als eine Bombe mitten auf dem Gehweg einschlug. Eben noch hatten ältere Männer friedlich beisammen gesessen und Karten gespielt, im nächsten Moment lag alles in Trümmern, überall Blut und verstreute Körperteile. Mutter und Kind wurden nur leicht verletzt, aber Hasmig sollte sich nicht mehr von dem traumatischen Erlebnis erholen. Sie begann zu stottern, litt an Gedächtnisverlust und verdrängte alles, was sie mit diesem Tag verband. Sie erkannte ihre eigene Tochter Lory nicht mehr wieder.

Der Krieg dringt tief in unser Inneres

Für Großmutter Helene begann damals die schwierigste Zeit ihres Lebens. Sie musste alles gleichzeitig machen, seelische Stütze sein, den Alltag stemmen und die zerrissene Familie zusammenhalten. Sie kümmerte sich um die Enkeltöchter, die ihre Mutter vermissten, um ihren Ehemann, der an Parkinson litt, um ihren Neffen, der seinen Vater im Krieg verloren hatte, um ihre Söhne, die keine Arbeit mehr fanden. Gleichzeitig hielt sie Kontakt zu ihrer depressiven Tochter in Beirut und einer weiteren Tochter in Damaskus. Helene war diejenige, die improvisieren konnte, als es an allem fehlte: an Wasser, Elektrizität, Öl, Lebensmitteln. Sie stellte sich zwischen den Bombenangriffen stundenlang in der Brotschlange an - und musste der hungernden Familie dann erklären, dass alles leer war, bevor sie an die Reihe kam. Sie besorgte das Holz für den Gasherd, das sie unten hineinschob, damit sie oben kochen konnte. Sie tröstete die Kinder, als Sniper ihr Wohnviertel unsicher machten, als eine Bombe im Haus gegenüber einschlug, es Trümmerteile, Glassplitter und brennendes Öl regnete und die Frontseite ihrer Wohnung zerstört wurde.

Der Krieg findet nicht bloß draußen statt, er dringt tief in unser Inneres: als Todesangst, Hunger, Bedrohung, als ständige Überforderung, Stress und Schlaflosigkeit, wurde Helene damals bewusst. Das ist der eigentliche Krieg. Nach der Flucht war er deshalb nicht einfach vorbei, auch nicht in der Sicherheit des Libanon. Frieden zu finden ist ein sehr langer Prozess, den jeder Mensch für sich selbst durchmachen muss. Sicherheit ist nur der erste Schritt. Zum Glück fand Helene Hilfe für sich und ihre Kinder und Enkelkinder. Wie so viele andere christliche Armenier aus Syrien kam Familie Mekhijan in Bourj Hammoud unter, einer kleinen Gemeinde von armenischen Libanesen am Stadtrand von Beirut. Hier erfuhr Helene vom armenischen Karagheusian Center, das regelmäßige Gruppentreffen für Frauen anbietet, eine Schule für Flüchtlingskinder organisiert und posttraumatische Belastungsstörungen behandelt. Misereor unterstützt die Arbeit dieses Sozialzentrums über das Hilfswerk Pontifical Mission seit 2014.

„Zuhause" haben viele aus ihrem Wortschatz gestrichen

„Da gibt es Menschen, mit denen ich über meine Sorgen, den Horror des Krieges, meine Angst sprechen kann und die das gleiche erlebt haben wie ich“, erzählt Helene. Das bedeutet viel, wenn man mit nichts in den Händen in einem fremden Land vollkommen auf sich allein gestellt ist. „Für mich ist es wie ein Zuhause“, sagt die 59-Jährige daher. „Zuhause“ ist ein Wort, das sie - wie so viele Vertriebene - schon lange aus ihrem Wortschatz gestrichen hatte. Zurück nach Syrien kann sie nicht, ihr Zuhause, wie sie es kannte, gibt es nicht mehr. Außerdem würden ihre erwachsenen Söhne Harout und Garo, die auch bei ihr leben, sofort zum Wehrdienst eingezogen und müssten in den Krieg. Ihre kleine Wohnung im Libanon teilen die Mekhijans mit anderen Flüchtlingen. Manchmal sind es drei große Familien in nur drei Zimmern, an Privatsphäre ist da nicht zu denken. Auch hier fühlt sich kaum etwas wie das Eigene an. Möbel, Handtücher, Bettlaken - alles haben die Mekhijans gebraucht von anderen Syrern übernommen, die weitergezogen sind.

Im Zentrum kann Helene ganz sie selbst sein und hat ihren eigenen Bereich. Deshalb freut sie sich tagelang auf die wöchentlichen Treffen. Inzwischen gehört sie dem Komitee von Frauen an, die die Gruppensitzungen organisieren und bestimmen, was besprochen werden soll. Die Themen richten sich nach den Bedürfnissen der Frauen und können vielfältig sein: Kriegstraumata mit dem Input einer Psychologin, ein medizinisches oder rechtliches Problem im Alltag Geflüchteter mit dem Vortrag einer Juristin oder Ärztin, ein spirituelles Thema im Beistand eines Geistlichen. „Das Ziel ist, die Frauen zu ermächtigen, selbst für sich und ihre Familien zu sorgen", erläutert Sozialarbeiterin Rachel das ganzheitliche Programm des Zentrums.

Frauen wie Helene sagt sie als erstes: „Wir lassen euch nicht allein". Oft sind diese nach der Flucht plötzlich das Familienoberhaupt und damit diejenigen, die allein für alle die wichtigen Entscheidungen treffen müssen: für den Beruf, für den harten Alltag im Libanon, für das Familienleben, das nicht immer leicht ist, wenn viele traumatisierte Personen auf engstem Raum zusammen leben und keine Beschäftigung, kein Geld und keine Perspektive haben. Die Frauen lernen, in ihren Familien frühzeitig Symptome von posttraumatischem Stress wahrzunehmen. So war Großmutter Helene in der Lage, die Zeichen bei Enkelin Lory zu lesen, die als Dreijährige das Blutbad mitangesehen hatte und extrem schreckhaft war. Sie besucht jetzt eine Traumatherapie im Karagheusian Center.

Eigentlich macht Helene im Zentrum auch nichts anderes als für ihre Familie: Sie kümmert sich um alles. Sie hat einen Teilzeitjob als Reinigungskraft in der Sommerschule, sie macht dort auch Sandwiches für die Kinder und Tee, wenn eines Bauchschmerzen hat. Aber: Wenn Helene mit den anderen Frauen zusammen ist und ihre Sozialarbeiterin Rachel trifft, dann kann sie sich Schwäche leisten. Dann ist sie diejenige, die Sicherheit bekommt, die traurig sein darf und deren Tränen getrocknet werden. In ihrer Familie würde sie sich solche Gefühle niemals gestatten, da muss sie der Fels in der Brandung sein. Im Kreis der Frauen hat Helene die Erfahrung gemacht, dass andere ihr zur Seite stehen. So hat sie einen inneren Frieden gefunden - gegen all die äußeren Widerstände.

Geteiltes Land

Im Libanon sind Flüchtlinge vor dem Bürgerkrieg in Syrien in Sicherheit. Aber sie müssen mit neuen Unsicherheiten zurechtkommen. Eine halbe Million von ihnen - das ist rund ein Drittel der Flüchtlinge im Libanon - ist nicht registriert. Offiziell gibt es sie also gar nicht. Sie haben kaum Zugang zu Bildung, Sozialdiensten oder zur Gesundheitsversorgung. Sie dürfen nicht regulär arbeiten und werden deshalb in informellen Beschäftigungsverhältnissen ausgebeutet. Alles kostet viel Geld: Aufenthaltsgenehmigung, Papiere, Arbeitserlaubnis. Das kann sich kaum jemand leisten. Damit versucht die Regierung, den hohen Flüchtlingszahlen entgegen zu wirken, die den sozialen Frieden und die wirtschaftliche Lage bedrohen. Denn ein Viertel der libanesischen Familien lebt selbst unter der Armutsgrenze. Syrische Flüchtlinge werden daher systematisch ausgegrenzt, politisch und gesellschaftlich.

Deshalb bezieht Pontifical Mission immer auch arme libanesische Haushalte in die Projekte mit ein, um ein friedliches Miteinander zwischen alteingesessener und neuzugewanderter Bevölkerung zu gewährleisten. Dahinter steht der inklusive Gedanke, dass in der Armut alle gleich sind, wie der Leiter Michel Constantin erläutert: „Als Christen sollte uns auszeichnen, dass wir bei der Hilfe keine Unterschiede machen“. Das gehört zur Vision von Pontifical Mission: „Ein friedliches Zusammenleben, das wir durch den direkten Kontakt zwischen Menschen erreichen wollen“, führt er aus.

Doch die angespannte Situation im Libanon belastet Familie Mekhijan sehr. Helenes Kinder hangeln sich von Gelegenheitsjob zu Gelegenheitsjob. In letzter Zeit hören sie immer wieder von Razzien, Verhaftungen, sogar von Abschiebungen von syrischen Flüchtlingen. Die Söhne Garo und Harout, beide über Vierzig, sind unverheiratet, eine eigene Familie können sie sich nicht leisten. Garo ist seit mehr als fünf Jahren arbeitslos, obwohl er als Mechaniker für Motoren eine gute Ausbildung hat. Er sitzt deshalb den ganzen Tag in der dunklen Wohnung herum und guckt lethargisch auf sein Handy, sein einziges Tor zur Welt. Was hätte er für Möglichkeiten, wenn man ihn lassen würde?

Vielleicht ist das auch ein Grund dafür, dass die Jüngste der Familie, die heute 12-jährige Lory, lernt wie verrückt. Sie möchte Tierärztin werden. Auf ihr liegt nun die ganze Hoffnung der Mekhijans. Sie ist die Zukunft.

© Susanne Kaiser / Misereor