Frage: Demgegenüber unterstützen in Brasilien, aber auch in Europa viele Katholiken einen Populismus, der auf den Schutz eigener Ansprüche und auf Ausgrenzung setzt.
Suess: Das Pastorale und das Politische ist nicht zu trennen, das war uns in Lateinamerika schon lange klar. Wir müssen ein bipolares Verhältnis von Politik und Religion überwinden und neu durchbuchstabieren. Es ist ja einfacher, das öffentliche Leben nur am Fernseher wahrzunehmen und am Sonntag in die Messe zu gehen. Die Armut, die auf der Straße liegt, ist eine ständige Belästigung und Unterbrechung – man möchte seinen frommen Weg weitergehen, und plötzlich liegt da einer, der unter die Räuber gefallen ist. Jesus hat mit dem Barmherzigen Samariter, der ja nicht in den Tempel durfte, ein gutes Beispiel gegeben: Man kann auch ohne aus dem Tempel zu kommen das tun, was notwendig ist, um ins Himmelreich zu kommen.
Frage: Was können Katholiken in Europa von der Synode lernen?
Suess: Man sollte vorsichtig sein mit kleinen Lektionen. Die lebendigen Gruppen, die hier sind, werden das schon vermitteln – wenigstens für die, die wach sind dafür. An Amazonien wird auf dieser Synode durchexerziert, was relevant sein kann für die Weltkirche. Was das ist, müssen sie selber herausfinden. Es kann ein Lernprozess werden für die, die offen sind.
Die lateinamerikanische Kirche war für viele sozial und pastoral engagierte Europäer eine Wunschkirche, die sie gerne näher bei sich gehabt hätten. Durch die Beschlüsse der Amazonas-Synode kann durchaus etwas Licht auf den „synodalen Weg“ in Deutschland fallen.
Frage: Was sagen Sie konservativen Katholiken, die durch die Synode eine Verfremdung und Verfälschung ihres Glaubens fürchten?
Suess: Wenn jemand eine Maske trägt, die Maske der Entfremdung von der Realität – die kann man nicht einfach herunterreißen, sonst würde man das halbe Gesicht zerstören. Das ist ein langer Prozess. Wir können das nicht von heute auf morgen bewältigen, weil es dabei um eingefleischte kulturelle Muster geht. Aber wir dürfen das Ziel, diese Entfremdung zu überwinden, auch nicht aufgeben. Es geht dabei durchaus um Evangelisierung: um Blindenheilung und Überwindung von Hörigkeit, also um das rechte Hinhören, aus dem der Glaube erwächst.
Von Burkhard Jürgens (KNA)
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