
Afrikamissionar zu Algerien: Proteste werden anhalten
Ordensgemeinschaften ‐ Die Unruhen in Algerien werden nicht mehr so schnell enden. Davon ist der Afrikamissionar Pater Hans Vöcking, der selbst acht Jahre im Land gelebt hat, überzeugt. Die jungen Algerier sehen keine Zukunft mit Präsident Abdelaziz Bouteflika. Ist der Arabische Frühling mit Verspätung in Algerien angekommen?
Aktualisiert: 07.03.2019
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Die Unruhen in Algerien werden nicht mehr so schnell enden. Davon ist der Afrikamissionar Pater Hans Vöcking, der selbst acht Jahre im Land gelebt hat, überzeugt. Die jungen Algerier sehen keine Zukunft mit Präsident Abdelaziz Bouteflika. Ist der Arabische Frühling mit Verspätung in Algerien angekommen?
Frage: Pater Vöcking, während des Arabischen Frühlings um 2011 herum hat es in Algerien vereinzelt Proteste gegeben. Doch anders als in Ländern wie Tunesien und Ägypten blieb der Regimesturz aus. Wieso kommen gerade jetzt derart starke Massenproteste in Algerien in Gang?
Vöcking: In Algerien herrschen noch immer die Männer, die den Befreiungskrieg von der französischen Kolonialmacht geführt haben. Die Armee ist in Algerien die herrschende Schicht, gleichzeitig ist der Mythos der Unabhängigkeit und des Befreiungskrieges praktisch zu Ende. Die Menschen, die heute in Algerien leben, sind alle nach dem Ende des Algerienkriegs von 1962 geboren. Darüber hinaus lief bei den Entwicklungen sehr vieles falsch durch den Arabischen Sozialismus mit Staatswirtschaft und Staatsbetrieben. Erstaunlich ist, dass es nun die jungen Studenten sind, die auf die Straße gehen. Das ist eine Gruppe, die sich auch artikulieren kann. Nicht so wie in Tunesien, wo sich der junge Straßenhändler Mohamed Bouazizi selbstverbrannte. Auch die jungen Studenten in Algerien sehen für sich keine Zukunft, auch weil durch die Armee alles blockiert ist.
Frage: Probleme wie Jugendarbeitslosigkeit gibt es in Algerien schon lange. Aber warum hat die Bevölkerung so lange still gehalten, warum gibt es gerade jetzt Proteste?
Vöcking: Die Wahl ist der Auslöser, dass die Gesellschaft explodiert. Präsident Bouteflika sah man in den vergangenen Jahren nur noch auf Fotos. Er ist sehr krank und soll sich im Moment auch wieder in der Schweiz in einer Universitätsklinik aufhalten. Dennoch stellt er sich zum fünften Mal für eine weitere Amtszeit von fünf Jahren auf.
„Die Wahl ist der Auslöser, dass die Gesellschaft explodiert.“
Frage: Auf Druck der Proteste hin hat er ja in Aussicht gestellt, nicht die ganze Amtszeit regieren zu wollen. Reicht das den Algeriern? Oder ist da etwas ins Rollen geraten, was nicht mehr aufzuhalten ist?
Vöcking: Ich glaube, die ganze Unruhe ist ins Rollen geraten, weil die alte Gruppe um die Befreiungskämpfer immer noch die Macht in den Händen hält. Die Studenten wollen aber neue Gesichter in der Politik. Seit 1962 sitzt die alte Garde an der Regierung und im Parlament. Das ist alles so festgefahren. Als wiederum in den 90er Jahren ein Bürgerkrieg zwischen Regierung und Islamisten herrschte, entwickelte sich eine Staatswirtschaft, die zu einer Parallelgesellschaft wurde mit eigenen wirtschaftlichen Interessen am Volk vorbei.
Frage: Der Algerische Bürgerkrieg hat sich tief ins Gedächtnis der Bevölkerung eingebrannt. Mit den neuen Massenprotesten gibt es die Befürchtung, dass die Situation wieder eskalieren könnte. Man denke nur daran, was die Proteste in Syrien ausgelöst haben. Teilen Sie diese Befürchtung, oder glauben Sie, dass die Algerier vorsichtiger sind?
Vöcking: Die Angst vor der Gewalt wie im Bürgerkrieg in den 90er Jahren sitzt noch tief bei den Algeriern. Aber man will auch weiterkommen und eine Zukunft haben im Land. Das ist den jungen Leuten wichtig.
Frage: Wie unterstützen die Weißen Väter die Menschen und junge Leute in Algerien?
Vöcking: Als ich in Algerien war, kam der Großteil der Weißen Väter noch aus Europa. Heute kommen die meisten aus Subsahara-Afrika. Sie haben zum Teil auch ihre Schwerpunkte geändert. Sie gehen stärker auf die afrikanischen Flüchtlinge zu, von denen viele in Algerien ankommen. Dadurch nimmt auch die Zahl der Christen zu. Hinzu kamen in den vergangenen Jahren einige Tausend Algerier – die meisten von ihnen gehören zur Berbergruppe der Kabylen –, die sich haben taufen lassen. Das zeigt, dass die soziale Kontrolle in der Gesellschaft abgenommen hat. Früher musste man den Islam immer gesellschaftlich leben. Wenn man früher Christ werden wollte, musste man praktisch auswandern: Wer Christ wurde, war sozial tot. Durch die engen Kontakte mit Europa hat man in Algerien heute eine andere Sicht auf die Religion. Wenn Sie immer hören: Islam ist der Dschihad, ist Gewalt und Krieg, dann mag die christliche Botschaft viele junge Leute faszinieren. Heute können Christen in Algerien bleiben und ihre Gottesdienste feiern.
Das alles zeigt, dass die Gesellschaft in Algerien keinen Zusammenhalt mehr hat, es gibt keine festen Strukturen, die weitergegeben werden und woran man sich festhalten kann. Die Familie hält noch zusammen. Und die Studenten treffen sich regelmäßig bei den Vorlesungen und können dementsprechend anders agieren. Ich glaube, was da jetzt abläuft, ist tiefgreifender als bestimmte Revolten vor 20, 30 Jahren.
Frage: Sie stehen in Kontakt mit ihren Mitbrüdern in Algerien. Wie reagieren sie auf die Proteste?
Vöcking: Natürlich würden sich meine Mitbrüder einen Demokratisierungsprozess für Algerien wünschen. Aber sie sind dann doch sehr zurückhaltend, weil sie dort Ausländer sind. Die Algerier haben schon einen Nationalstolz, den die Brüder nicht verletzen wollen. Die Patres müssen immer genau überlegen, was sie können, was sie dürfen. Am 8. Dezember wurden ja die 19 Märtyrer selig gesprochen, darunter sieben 1996 ermordete Trappisten von Tibhirine, vier Weiße Väter und weitere algerische Märtyrer. Das wurde in Oran groß gefeiert in der aus der französischen Kolonialzeit stammenden Pilgerkirche Notre Dame. Minister waren gekommen, auch die Algerier freuten sich über die Seligsprechung. Aber in den jetzigen Unruhen ist es als Ausländer und dann noch als Christ schwieriger, sich zu äußern. Da muss man immer vorsichtig sein. Auch die Bischöfe hadern noch mit einer klaren Stellungnahme.
Frage: Eine Befürchtung ist auch, dass, wenn die Situation so angespannt bleibt, die Fluchtbewegungen aus Algerien zunehmen.
Vöcking: Wenn die Grenze offen wäre, wäre die Hälfte der Algerier wahrscheinlich schon in Europa, weil das Verhältnis zwischen beiden Regionen sehr eng ist. Einmal durch die Kolonialzeit – Frankreich war 130 Jahre lang im Land. Viele Algerier leben und arbeiten mittlerweile in Frankreich oder Belgien. Jede algerische Familie hat einen Verwandten in Europa. Da läuft natürlich viel Kommunikation und es entstehen oft auch falsche Vorstellungen von Europa. Viele Algerier sehen in Europa nur die Freiheit und den Reichtum. Da machen sich auch viele Illusionen. Diese können durch die Familienbesuche wieder etwas relativiert werden, wenn die in Europa lebenden Verwandten nach Algerien kommen und erzählen, wie es in Frankreich und Belgien abläuft.
Frage: Und auch dort wird gegen die Regierung Bouteflika protestiert. Glauben Sie denn, dass diese Massenproteste in Algerien Bestand haben werden?
Vöcking: Ich glaube, dieser Aufstand ist von Dauer. Er ist wirklich im Lande beheimatet: Die Regierung ist zu lange an der Macht, ist korrupt und das weiß jeder und erlebt das auch. Gerade dadurch, dass junge Menschen protestieren, die eine Zukunft wollen, werden diese Unruhen anhalten.
Frage: Gibt es denn einen Nachfolger, den Sie für geeignet halten?
Vöcking: Da möchte ich keine Prognosen abgeben. Aber die herrschende Schicht wird erst einmal keinen nach Oben lassen. Die, die jetzt die ganze Macht in den Händen halten, ist die Gruppe, die sich im Bürgerkrieg zusammengefunden hat. Sie haben in den letzten 50 Jahren keinen anderen an die Macht gelassen. Algerien ist eine Diktatur.
Frage: Im Arabischen Frühling hat Europa ja angekündigt, die Demokratie und die Jugend der Länder Nordafrikas zu fördern. Was ist von diesen Versprechen übriggeblieben?
Vöcking: Da hat Europa auch ein wenig nachgelassen in den letzten Jahren. In den 90er Jahren fingen die Europäer an mit einem Mittelmeer-Dialog. Dieser mündete aber nur in den wirtschaftlichen Sektor. Man förderte nur noch bestimmte Industrien im Maghreb. Was man damals noch im kulturellen Bereich anstoßen wollte, ist im Sande verlaufen.
Frage: Rächt sich das jetzt, dass man diese Region aus europäischer Sicht offenbar nicht genug im Blick hatte?
Vöcking: Man darf natürlich auch nicht zuviel von Europa erwarten. Die EU hat damals den guten Willen gezeigt, etwas zu machen. Aber da fehlte dann auch der Gesprächspartner. Mit Marokko hat es besser funktioniert, da laufen auch noch bestimmte Projekte weiter – auch dadurch, dass der König von Marokko die Situation noch im Griff hat und eine gewisse Offenheit zeigt. Dennoch: Wenn Europa sich in den Konflikt in Algerien einschalten würde, wäre das auch für die jungen Leute eine Hilfe. Sie brauchen Unterstützung, das ist ganz klar. Europa könnte ihnen Rückhalt geben.
Es war lange ruhig in Algerien – da spielt die Erfahrung des Bürgerkriegs sicher mit eine Rolle. Die jungen Leute, die jetzt protestieren, waren im Bürgerkrieg noch Kinder. Sie schrecken weniger zurück vor der Konfrontation. Und sie wissen: Mit Präsident Bouteflika kann man keine Zukunft mehr gestalten.
Das Interview führte Claudia Zeisel.
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