„Wenn wir jetzt so tun, als hätten wir keine Krise in unserem Sektor, dann machen wir uns etwas vor“, sagte vor wenigen Tagen der Chef von Safe the Children im Vereinigten Königreich, Kevin Watkins. „Das ist unser Finanzkrise-Moment wie 2008. Die Finanzkrise ist ausgebrochen, weil Institutionen zu groß, zu selbstsicher, zu überschwänglich wurden und zu stark an ihre eigene Macht glaubten und nicht willens waren, ihre eigene Organisationskultur zu hinterfragen.“
Sexueller Missbrauch zeigt strukturelle Probleme an
Genau diese Kultur hinterfragt die niederländische Journalistin Linda Polman seit vielen Jahren. Sie hat jahrzehntelang aus Krisengebieten berichtet und kritisiert die Arbeit der Hilfsorganisationen in ihren Büchern teils scharf. Für sie steht der aktuelle Missbrauchsskandal symptomatisch für ein strukturelles Problem bei den Hilfsorganisationen: Es gibt in ihren Augen ein zu hohes Machtgefälle zwischen Hilfsorganisationen und den Hilfsbedürftigen – und zwar in erster Linie durch das Geld. Besonders größeren Nichtregierungsorganisationen wie Oxfam, die jährlich mehrere Millionen Euro von ihren Geberländern erhalten, spricht sie einen zu großen Machtspielraum zu: „Die NGOs und ihre Geberländer entscheiden, wo und wie sie ihr Geld ausgeben und damit auch über die Zukunft armer Länder. Das gibt den NGOs eine riesige Macht. Eine Konsequenz dieser Macht ist auch der sexuelle Missbrauch. Dahinter steckt eine Arroganz, ein Machtmissbrauch, eine Missachtung der Bedürfnisse der örtlichen Bevölkerung,“ so Polman.
In den Reihen der Helfer tauche eben immer wieder auch jene Sorte Mitarbeiter auf, die für diesen Machtmissbrauch besonders anfällig sei. Dieser geschieht nicht zuletzt auch in den eigenen Reihen der Organisationen, wie zuletzt Berichte über sexuelle Belästigung unter Mitarbeitern bei Safe the Children oder während des UN-Klimagipfels in Bonn zeigten.
Linda Polman kritisiert, dass sich große Hilfsorganisationen wie die der Vereinten Nationen in Einsatzländern oft in einer Art Blase bewegten, ohne ausreichend mit staatlichen und lokalen Organisationen zu kommunizieren. Es dürfe nicht zu einer Kultur der Straflosigkeit kommen, in der sich Mitarbeiter über das Gesetz des Einsatzlandes hinwegsetzen. Sie fordert, dass die Geberländer und Mitgliedstaaten, also die einzelnen Regierungen, mehr in die Pflicht genommen werden. Problematisch sei auch eine oft hohe Dichte an Hilfsorganisationen wie in Haiti, wo man mittlerweile von einer „NGO-Republik“ spricht. Das habe auch zur Konsequenz, dass lokale Institutionen untergraben würden: „Die großen Hilfsorganisationen locken die Professoren aus den Universitäten, Lehrer aus Schulen, Ärzte aus Krankenhäusern. Einfach, weil sie das bessere Gehalt zahlen,“ so Polman.
Hilfe muss gemeinsam mit den Menschen vor Ort geschehen
Deshalb ist es nach Barbara Wiegard für Misereor so wichtig, lokalen Organisationen durch finanzielle Unterstützung die Möglichkeit zu geben, Projektarbeit eigenständig mit lokalen Kräften zu leisten. „Kein ausländischer Experte kennt die Situation so gut wie die Menschen vor Ort.“ Trotzdem wird es immer Situationen geben, wo ausländische Fachexpertise benötigt wird. Vor jenen, die im Ausland helfen, und dies oftmals trotz Gefahr für das eigene Leben, habe sie großen Respekt: „Die Hilfe für die Mitmenschen steht für diese Menschen im Vordergrund, sie führen ein Leben, zu dem so mancher hier in Deutschland sicher nicht bereit wäre.“
Von Claudia Zeisel
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