Frage: Zur jetzigen Stunde Europas gehört auch das erneute Auseinanderdriften von West- und Osteuropa. Ist die Vision von Johannes Paul II., der ein Europa der zwei Lungenflügel wollte, gescheitert? Ist das ad acta zu legen?
Marx: Nein, gerade nicht. Wenn ich an die Zeit 1989/1990 denke, die große Wende, da meinte man, es würde eine neue Weltordnung entstehen, und bei uns meinte man damit unsere westliche Ordnung. Das ist aber zu einfach gedacht. Wir müssen respektieren, dass die Länder in Osteuropa eine eigene Geschichte haben. Sie sind in ihren Identitäten mehrfach beschädigt worden im Verlauf des 20. Jahrhunderts. Für manche sind die Entwicklungen sehr schnell gegangen, manche haben auch verloren. Man muss auch diese Suchbewegung mit in den Blick nehmen. Unsere Frage heute muss doch sein: Wie kommen wir in der Vielfalt Europas zu einem „common sense“? Es kann keinen Weg zurück in die nationalistische Variante geben. Wer Mitglied der EU ist, muss sich auf deren Grundlagen beziehen: Demokratie und Rechtsstaat. Aber es macht mir ein wenig Sorge, das gebe ich zu. Die Tendenz, die eigene Nation gegenüber anderen zu erhöhen, ist keine Entwicklung, die wir als Christen befördern sollten.
Frage: Das ist ja auch einer der Gründe, warum populistische Parteien im Moment Wahlerfolge verzeichnen. Hat die Kirche das Bedürfnis nach Heimat, nach Identität in breiten Bevölkerungsschichten unterschätzt?
Marx: Es geht, meine ich, vor allem um die Frage, was ich unter Heimat verstehe, was kulturelle Identität ist. Das ist schwer zu definieren. Was stimmt ist, dass es in dieser schnelllebigen Zeit auch manche Verlierer der Globalisierung gibt. Die Anstrengung, die die konstruktive Gestaltung einer freien Gesellschaft auch bedeutet – nämlich, sich immer wieder neu einzulassen, zu diskutieren, Pluralität auch in der nächsten Umgebung auszuhalten –, ist ein hoher Anspruch. Und ich glaube, dass auch das eine der Ursachen ist, warum sich manche nach homogenen und geschlossenen Gesellschaften zurück sehnen. Das wird aber nicht gelingen: Es gibt keinen Weg zurück, sondern immer nur nach vorne. Diese Tendenzen sind ja weltweit zu beobachten, das hat nicht ursächlich mit Europa zu tun.
Frage: Diese Populismen gibt es auch innerkirchlich. Sollte das bei der Tagung in Rom ein Thema sein?
Marx: Wir haben auch in der Kirche Rückwärtsbewegungen und man will sich der Tradition neu vergewissern. Das kann auch positiv sein. Aber wenn es zur Restauration gerät, zur Abgrenzung gegen andere legitime Auffassungen, dann wird es zum Nationalismus, zum Populismus – auch in der Kirche. Dann wird die Aussage nach vorne getragen: Nur ich bin in der Wahrheit, die anderen nicht. Das verhindert Großzügigkeit des Denkens, Aufbruch ins Neue. Hinter verschlossenen Türen wird mit allen Mitteln das verteidigt, was man hat. Manchmal werden auch kirchliche Traditionen benutzt, um die eigene politische Identität zu befördern, ebenso umgekehrt. Es gibt gegenseitige Instrumentalisierungen: Manche kirchlichen Gruppen benutzen Politik, um ihre Interessen durchzusetzen, manche Politiker benutzen Religion, nicht nur im Christentum, um ihren Ideen Schwungkraft zu geben. Darüber kann man sich sehr wohl austauschen, aber: Das Evangelium ist letztendlich nicht politisch manipulierbar.
Frage: Papst Franziskus, der Lateinamerikaner, hat einmal Europa mit einer unfruchtbaren Großmutter verglichen. Glauben Sie, dass er Europa jetzt auf einem besseren Weg sieht?
Marx: Die Frage ist: Hat Europa Lust auf Zukunft, Lust auf das Leben? Es wäre ein wichtiger Impuls zu sagen: Europa, du bist Teil der Zukunft, zieh dich nicht zurück auf dich selbst, verteidige deinen Wohlstand nicht hinter einer Mauer. Das eingemauerte Europa, das sich abschottet, wäre „unfruchtbar“. Ich glaube, Papst Franziskus wollte mit diesem Bild sagen: Seid ihr bereit für die anderen oder wollt ihr euch abschließen? Denn das kann nicht der Weg Europas sein. Johannes Paul II. hat sehr schön gesagt: Europa heißt Öffnung. Und das war und ist für mich immer ein Leitmotiv für meine Arbeit in und für Europa. Und dazu soll die COMECE und der „(Re)Thinking Europe Dialogue“ in Rom einen Beitrag leisten.