„Zuerst muss Moïse eine funktionierende Regierung aufstellen, die das Wohl des Landes im Blick hat und nicht strategisch von der Opposition blockiert wird“, sagt der Hauptgeschäftsführer des Lateinamerika-Hilfswerkes Adveniat, Prälat Bernd Klaschka. Gemeinsam mit den haitianischen Partnern engagiert sich Adveniat für den Wiederaufbau des Landes auch sieben Jahre nach dem schweren Erdbeben. „Auch in den kommenden Jahren werden wir an diese vergessene Katastrophe erinnern und mit den Menschen Zukunftsperspektiven für ihr Land entwickeln“, betont Klaschka.
Dem politisch unerfahrenen Präsidenten wünscht der Adveniat-Chef, dass er seinen Beraterstab klug wählt. „Eine wichtige Aufgabe wird sein, Haiti wieder für Investoren interessant zu machen und Arbeitsplätze zu schaffen.“ Gerade auch Akademikern müssten laut Klaschka berufliche Perspektiven geboten werden, damit sie an der Entwicklung ihres Heimatlandes mitwirken, statt in den USA oder anderen Ländern ihr Glück zu suchen.
Leben als Überlebenskampf
Wer durch Port-au-Prince fährt, kann erahnen, welch große Bürde auf Moïse lastet, dem Mann, der sein Geld mit Bananen verdient hat. Die katastrophalen Auswirkungen des Erdbebens von 2010 sind noch immer zu sehen. Die politischen Verfehlungen der zurückliegenden Jahrzehnte auch. In den Straßengräben türmt sich der Müll und keiner weiß, ob oder wann er abgeholt wird. Die Stadt pulsiert, auf eine geradezu anarchische Art und Weise. Die einzige Verkehrsregel ist das Recht des Stärkeren. Die Versorgung der Stadtbevölkerung funktioniert zu einem Großteil über den so genannten informellen Sektor: Straßenhändler, die Lebensmittel, Autoreifen, Hosen, Schuhe und Dienstleistungen aller Art anbieten.
Das Leben als Überlebenskampf, alles funktioniert, aber eben nur irgendwie. „Ich würde gerne Polizistin werden“, sagt die 17-jährige Melyssa, „aber ich kann noch nicht einmal zur Schule gehen.“ Was sie sich von dem neuen Präsidenten wünschen würde? „Ordnung“, ist die überraschende Antwort dieses Mädchens, wo andernorts die meisten Teenager gerade Ordnung so sehr verfluchen.
Die 47 Jahre alte Wilvarde, eine Frau, die vor der Kirche von Pétionville, einem Vorort von Port-au-Prince, um ein paar Geldstücke bittet, glaubt an Moïse: „Er und Gott werden es schaffen. Ich persönlich erwarte mir nicht mehr viel vom Leben, aber meine vier Kinder sollen es besser haben.“ Die traurig wirkende Frau leidet unter schlimmen Kopfschmerzen, wie sie erzählt. Irgendetwas mit ihrem linken Auge, sagt sie. Die genaue Ursache kennt sie nicht, denn ein Arztbesuch liegt außerhalb ihrer Möglichkeiten.
Reformen und Kampf gegen Korruption
Auch Stephan Destin, ein Bauingenieur, der das katholische Wiederaufbau-Programm „Proche“ leitet, sieht in dem neuen Präsidenten viel Potenzial. Aber auch große Aufgaben: „Er müsste das Justizwesen, die korrupte Polizei und vor allem auch den Bildungs- und Gesundheitssektor reformieren“, sagt Destin, der sein Studium in New York absolviert hat. „Ein schwieriges Unterfangen, aber Moïse ist politisch einigermaßen unbelastet – das könnte die große Chance dieses Landes sein.“
Odelin, ein Kellner Ende 50, ist einer der wenigen, die sich von dem neuen Präsidenten nicht viel versprechen: „Aber das liegt nicht an Moïse. Ich wurde schon zu oft enttäuscht“, erklärt der Mann mit den grauen Haaren und dem leicht gebeugten Gang. Es werden schwierige Monate und Jahre für Moïse werden, das wissen die meisten Haitianer. Aber irgendwie scheinen ihm viele dieses Amt zuzutrauen. Und Hoffnung oder Glaube sollte man in einem Land wie Haiti nun wirklich nicht unterschätzen.
In der Cité Soleil ist der Tank leer. Einige haben es nicht geschafft. Sie standen zu weit hinten in der langen Schlange. Aber keiner beschwert sich. Die Männer, Frauen und Kinder nehmen ihre leeren Eimer und gehen zurück zu ihren Wellblechhütten. Es wird ein anderer Lastwagen kommen. Und irgendwann haben sie vielleicht sogar einen Wasseranschluss in dem Armenviertel von Port-au-Prince. Moïse wird viel zu tun haben.
Von Michael Gösele
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