Frage: Sie vertrauen also nicht auf die Politik?
Tagle: Nicht allein jedenfalls. Dazu haben wir zu viel mitgemacht in den vergangenen Jahrzehnten. Es gab viele Versuche und Versprechen, die Gesellschaft gerechter zu machen. Die hörten sich oft auch sehr vielversprechend an. Wir haben eine gute Verfassung, aber in der Praxis wird nichts davon umgesetzt. Die Zivilgesellschaft muss stärker werden – und dabei müssen wir als Kirche mithelfen, aber auch die internationale Gemeinschaft.
Frage: Wie beurteilen Sie da die neue Regierung unter Rodrigo Duterte?
Tagle: Da bin ich etwas vorsichtig, denn sie ist ja erst gut drei Monate im Amt. Und man muss schon sagen, dass auf seiner Agenda etliche Punkte stehen, die für mehr Gerechtigkeit sorgen sollen und auch könnten – wenn sie denn umgesetzt würden. Daran müssen wir natürlich immer erinnern und auch darauf drängen.
Frage: Wo sehen Sie solche Ansätze für mehr Gerechtigkeit?
Tagle: Zum Beispiel da, wo die Regierung dafür sorgen will, dass sich auch die extrem reichen Oligarchen nicht länger vor dem Zahlen von Steuern drücken können. Oder wo sie Arbeitsgesetze ändern will, die einseitig die Armen benachteiligen. Weiterhin ist der Kampf gegen illegale Drogen eine Notwendigkeit. Allerdings stellt sich die Frage, welcher Ansatz hier der richtige ist.
Frage: In der Tat.
Tagle: Natürlich lösen die Aussagen von Präsident Duterte Besorgnis aus. Und ein willkürliches „Abschlachten“, wie er es ja selbst nennt, muss ein Ende haben, weil diesen Aktionen auch unschuldige Menschen zum Opfer fallen.
Frage: Aber?
Tagle: Das Ziel dahinter tragen fast alle Menschen auf den Philippinen mit: nämlich das Ende der Drogenkartelle mit ihren schmutzigen Geschäften und der Gewalt, die schon viele Chancen auf eine bessere Zukunft und so unendlich viele Familien zerstört haben. Und diese Familien der Opfer stehen mit großer Mehrheit hinter Dutertes Politik – egal wie brutal und rücksichtslos er vorgeht.
Frage: Und was sagt die Kirche dem Präsidenten?
Tagle: Einerseits, dass er sich mäßigen muss; dass es so wie derzeit nicht weitergehen darf. Aber wir belassen es nicht bei der öffentlichen Anklage mit erhobenem Zeigefinger und lehnen uns dann zurück und fühlen uns moralisch überlegen. Das allein führt in dem Fall nicht weiter, fürchte ich. Wir brechen die Gespräche nicht ab, sondern bleiben weiter im Kontakt mit Duterte und seiner Regierung.
Sie verstehen sicher, dass ich keine Details verraten kann, aber ich denke, dass wir nur auf diese Weise im Hintergrund an besseren Lösungen mitarbeiten können. Ich sehe keine andere Chance, wenn wir wirklich Verbesserungen erzielen wollen, anstatt nur weitere Verhärtungen zu provozieren. Es ist kein leichter Weg, und keiner kann uns garantieren, dass er zum Erfolg führt – aber es gibt keine wirkliche Alternative.
Von Gottfried Bohl (KNA)
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