Hagemann: Das Kapitel zur Flüchtlingspolitik spiegelt leider eher die Abwehrhaltung der EU gegenüber Migranten wider, nicht die Stärkung ihrer Rechte. Es wird betont, dass die EU-Außengrenzen geschützt, Schleuserkriminalität und Fluchtursachen bekämpft werden müssen. An keiner Stelle wird jedoch erwähnt, dass das Recht auf Emigrieren in der Menschenrechts-Charta verankert ist. Es fehlen Maßnahmen, wie legale und reguläre Zugangswege nach Deutschland und in die EU geschaffen werden können. Dabei ist dies das zentrale Problem unserer Migrationspolitik: Fast jeder, der sich in Europa niederlassen möchte, kann dies nur über einen Asylantrag schaffen. Arbeitsmigration wird nicht als Bestandteil einer nachhaltigen und menschenrechtsbasierten Beschäftigungspolitik gesehen.
Frage: Menschenwürdige Arbeit ist eines der Schwerpunktthemen von Justitia et Pax. Schlägt die Nachhaltigkeitsstrategie sinnvolle Maßnahmen vor, um die Rechte von Arbeitern zu stärken?
Hagemann: In dem Entwurf der Bundesregierung sehen wir hierzu leider wenig Innovation – weder mit Blick auf die Situation der Arbeiter in Deutschland, noch im internationalen Kontext. Die Bedeutung des sozialen Dialogs mit Gewerkschaften und Arbeitgebern für den Erhalt sozialen Friedens nimmt beispielsweise wenig Raum ein. Auch die Maßnahmen, um Langzeitarbeitslosigkeit zu vermeiden, müssen gestärkt werden. Sowohl auf internationaler Ebene als auch national und europäisch sehen wir zudem die Rechte von Wanderarbeitern zu wenig abgebildet. In Deutschland besteht dazu z. B. Nachbesserungsbedarf bei der Arbeitsinspektion. Wenn saisonale Arbeitskräfte kontrolliert werden, dürfen nicht nur die Finanzen und die Suche nach Schwarzarbeit im Mittelpunkt stehen, sondern auch die Arbeits- und Lebensbedingungen der Wanderarbeiter.
Frage: Welche Fortschritte machen die anderen Länder mit ihren nationalen Nachhaltigkeitsstrategien? Sind sie genauso ambitioniert wie die deutsche?
Hagemann: Dadurch, dass die Bundesregierung ihre nationale Nachhaltigkeitsstrategie schon 2002 entwickelt und weitergeschrieben hat, gibt es in Deutschland ein gutes Fundament für die Umsetzung der SDGs. Andere sind noch längst nicht so weit. Die Agenda 2030 ist für viele Länder Neuland – auch in Bezug auf die Erfassung von Daten. Indikatoren müssen gesetzt werden, um die Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele zu kontrollieren. Vielen Ländern fehlen hier einfach die personellen und finanziellen Ressourcen. Ein erster Schritt hin zu einer engeren Zusammenarbeit der Staaten wäre daher eine gemeinsame Nachhaltigkeitsstrategie z. B. der EU. Diese gibt es bisher nicht, wäre jedoch dringend notwendig.
Frage: Welches Fazit der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie ziehen Sie? Ist die Agenda 2030 damit umsetzbar?
Hagemann: Der Entwurf der Nachhaltigkeitsstrategie enthält gute Ansatzpunkte. Man sieht darin allerdings auch die Unterschiedlichkeiten der verschiedenen Ressorts und deren Verbindlichkeit für die Agenda 2030. Einige Punkte, wie die Umweltziele oder die Maßnahmen der Entwicklungszusammenarbeit, sind detailliert ausgeführt. Der Abschnitt zur Armut und sozialer Gleichheit in Deutschland ist hingegen noch nicht präzise genug. Insgesamt ist jedoch zu beachten, dass die Umsetzung der Nachhaltigkeitsagenda ein großer Prozess ist. Wir sind erst im ersten Jahr nach der Verabschiedung der SDGs. In den nächsten 14 Jahren können noch viele Entwicklungen passieren. Insofern ist es wichtig, dass wir als Zivilgesellschaft am Ball bleiben. Wir müssen die Regierungspolitik beobachten, kritisch kommentieren und vor allem selbst Vorschläge machen, wie die Agenda 2030 in Deutschland, durch Deutschland und mit Deutschland als Partner im internationalen Kontext umgesetzt werden kann.
Das Interview führte Lena Kretschmann.
© weltkirche.katholisch.de