Mariam aus dem Sudan – Eine Mutmacherin im Flüchtlingscamp
Ura/Addis Ababa ‐ Der Krieg im Sudan ist zur größten Vertreibungskrise der Welt geworden. Im Flüchtlingslager im äthiopischen Ura zeigen sich die Folgen globaler Nothilfekürzungen. Derweil verändert sich Äthiopiens Rolle im Sudankrieg.
Aktualisiert: 22.12.2025
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Manche Grausamkeiten dieser Welt sind so unerträglich, dass das Gehirn sie abschirmt, um denjenigen zu schützen, der sie erlebt hat. Mariams Gehirn schirmt vieles vor ihr ab. „Es sind viele Dinge geschehen, aber ich erinnere mich nicht an alles“, sagt sieüber ihre Flucht aus dem Sudan nach Äthiopien. Aus Sicherheitsgründen ist Mariam nicht ihr richtiger Name.
Streifen aus schwarzer Spitze verzieren die weißen Flächen ihres fleckenfreien Gewands. Akkurat gezogene Hennabemalungen färben ihre Fingerkuppen rotbraun. Auf dem linken Ringfinger sitzt ein silberner Verlobungsring mit hellem Stein. Er zittert mit der Hand. Mit dem rosafarbenen Hidschab wischt sich Mariam die Tränen aus den Augen. In zwei Tagen wird die 22-Jährige im Flüchtlingslager von Ura in der westäthiopischen Region Benishangul-Gumuz heiraten. Eigentlich sollte sie glücklich sein.
Seit anderthalb Jahren lebt Mariam mit ihren Eltern und zwei Geschwistern in einer Notunterkunft neben knapp 15.000 weiteren Geflüchteten. Bis zu acht Personen wohnen jeweils in Hütten aus Lehm, Plastikplanen und Wellblech auf rotem Sand. Jedes Haus hat eine Adresse - eine Kombination aus acht Ziffern und Buchstaben. Es gibt Stadtviertel mit den Namen „A“, „B“ und „C“. 300 Meter vor dem Lager steht die Grundschule des Dorfes Ura. Dort unterrichtet Mariam, die ehemalige Medizinstudentin, Englisch. Denn Aufgeben gilt nicht.
Ihre Familie ist Opfer der größten Vertreibungskrise der Welt. Seit Beginn des Sudankrieges im April 2023 flohen fast 12 Millionen Menschen vor der Gewalt - mehr als die Einwohner Portugals. Über vier Millionen von ihnen suchten Schutz in Nachbarstaaten, vor allem in Ägypten, dem Südsudan und dem Tschad. Nach Äthiopien flüchteten laut UN-Angaben knapp 180.000 Menschen.
Bomben des Machtkampfes zwischen der staatlichen Armee (SAF) und der Miliz Rapid Support Forces (RSF) töteten Mariams Tante und Onkel. Auch die Großmutter starb, weil sie durch die Kämpfe nicht mehr an ihre Medikamente gelangte. Mariams Mutter sprach sich öffentlich gegen den Krieg aus und landete mehrfach im Gefängnis.
Aus der Hauptstadt Khartum floh die Familie zunächst nach ad-Damazin im Südosten des Sudans. „Die Straßen waren im Herbst sehr schlecht. Es regnete durchweg - und die Soldaten haben uns viele Probleme gemacht“, sagt Mariam und stockt. Die Englischlehrerin findet plötzlich keine englischen Worte mehr und spricht auf Arabisch weiter. Soldaten vergewaltigten sie vier- oder fünfmal; wieder setzen Erinnerungslücken ein. Die Mutter entschied schließlich, in Äthiopien Schutz zu suchen.
Fluchtbewegungen weiten sich aus
Heute, anderthalb Jahre später, weiten sich die Kämpfe wieder aus. „Der Krieg hat im vergangenen Jahr mehrfach die Richtung gewechselt“, sagt Magnus Taylor, stellvertretender Direktor für das Horn von Afrika bei der Denkfabrik Crisis Group: „Inzwischen hat sich das Kriegsgeschehen wieder zugunsten der RSF verschoben - insbesondere seit dem Fall von El Fasher.“ Vor allem die Unterstützung der Vereinigten Arabischen Emirate für die RSF habe die Wende eingeleitet. Die Kämpfe in neuen Landesteilen des Sudans könnten nun neue Fluchtbewegungen nach Äthiopien auslösen.
Nach den Budgetkürzungen internationaler Geldgeber, darunter die Bundesregierung, und dem Aus der US-amerikanischen Behörde USAID fehlt es im Flüchtlingslager in Ura schon jetzt am Nötigsten. Mariams herzkranke Tante starb vor zwei Monaten in Ura, weil die Medikamente fehlten. Die Lebensmittelrationen reichen oft nur für den halben Monat. Auch an Mariams Schule weiß der Direktor nicht weiter. „Wir haben 100 Schüler pro Klassenzimmer, obwohl 50 die Grenze des Bildungsministeriums ist“, klagt Getabalew Meketie. Zwei Drittel seiner 3.200 Schülerinnen und Schüler sind aus dem Sudan geflohen.
Unter dem großen Mangobaum auf dem Schulhof stehen auch die Geflüchteten Ahmed und Isam, zwei Lehrerkollegen von Mariam. Die monatliche Aufwandsentschädigung von umgerechnet 5,30 Euro helfe ihnen kaum zu überleben, beschweren sie sich. „Aber es fühlt sich an, als ob dies hier auch meine Kinder wären. Ich kann sie nicht ohne Bildung lassen“, sagt Ahmed. Soldaten verschleppten seine eigenen Kinder und seine Frau - vielleicht um sie zu töten. Er wisse es nicht. „Es gibt keine Zukunft im Sudan“, sagt er.
Analyst Magnus Taylor glaubt, dass über die Zukunft des Sudankriegs zunehmend auch in Äthiopien entschieden wird. Zum einen fürchte Äthiopien einen neuen grenzübergreifenden Konflikt mit der TPLF, der Befreiungsbewegung der äthiopischen Tigray-Region. „Eine ganze Reihe von Tigrayern kämpft im Osten des Sudan an der Seite der SAF“, sagt Taylor.
Zum anderen habe der neue äthiopische „GERD“-Staudamm antagonistische Allianzen verfestigt. Im äthiopisch-ägyptischen Streit um das Nilwasser seien SAF-Unterstützer Ägypten und Eritrea enger zusammengerückt - auf der Gegenseite aber auch Äthiopien und RSF-Unterstützer Vereinigte Arabische Emirate. Die Lösung des Krieges liegt ausTaylors Sicht nicht im Sudan: „Man muss die arabischen Unterstützer hinter diesem Konflikt, Saudi-Arabien, Ägypten und die Vereinigten Arabischen Emirate, an einen Tisch bringen.“
In Ura, weit weg vom Tisch der Kriegsparteien, arbeitet Mariam an ihrer Zukunft und an der ihrer Schüler. Die Hilfsorganisation Plan International baute eine Hilfestelle für Betroffene geschlechtsspezifischer Gewalt. Durch die Besuche seien schon Erinnerungen zurückgekehrt.
Auch die Arbeit in der Schule hilft: „Wenn ich die Kinder sehe, vergesse ich alles“, sagt Mariam. Der Krieg habe ihr das eigene Medizinstudium genommen. Aber ihren Schülern wolle sie die Chance geben, eines Tages ein Studium abzuschließen.
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