Die vergessenen Mädchen von Chibok
Abuja ‐ Die Entführung von 276 Schülerinnen in der Nacht zum 15. April 2014 machte den kleinen Ort Chibok im Nordosten Nigerias und die islamistische Terrorgruppe Boko Haram weltbekannt. Noch immer sind nicht alle Opfer frei.
Aktualisiert: 11.04.2024
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Es sind beeindruckende Terrakotta-Skulpturen, die die französische Bildhauerin Prune Nourry gemeinsam mit Studierenden der Abteilung für bildende und angewandte Kunst an der Obafemi-Awolowo-Universität in Ile-Ife im Südwesten Nigerias geschaffen hat. Die 108 im Jahr 2022 modellierten Köpfe zeigen die 108 Schülerinnen von Chibok, die sich zu diesem Zeitpunkt noch immer in der Gewalt von Boko Haram befunden haben.
Die islamistische Terrorgruppe hatte in der Nacht zum 15. April 2014 im Bundesstaat Borno im Nordosten Nigerias anfangs 276 Schülerinnen verschleppt. Dass Bewaffnete nachts in die Schlafsäle der staatlichen weiterführenden Schule eindringen und ohne jegliche Gegenwehr eine Massenentführung durchführen konnten, hatte weltweit Entsetzen ausgelöst. Zugleich wurde die 2002 gegründete Bewegung Boko Haram („Westliche Bildung ist Sünde“), die anfangs gegen politische Eliten und für eine konservative Auslegung des Islams kämpfte, international bekannt.
Zu sehen sind die Terrakotta-Skulpturen - sie waren nach Fotos entstanden, die die Eltern der Mädchen zur Verfügung gestellt hatten - nun in dem Kurzfilm „Auch Statuen atmen“, der an das Schicksal der Schülerinnen erinnert. Nach Informationen der spontan Ende April 2014 gegründeten Bewegung #BringBackOurGirls und weiterer nichtstaatlicher Organisationen sind bis heute noch knapp 100 nicht wieder zurück bei ihren Familien, einige dürften nicht mehr am Leben sein. Rund um den zehnten Jahrestag wird nun wieder auf ihr Schicksal aufmerksam gemacht.
In den ersten Jahren nach der Entführung gelang es der Regierung von Muhammadu Buhari – sein Vorgänger Goodluck Jonathan wurde 2015 auch deshalb abgewählt, weil er die Ausbreitung von Boko Haram nicht stoppte – mehrfach, dass ein Teil der Entführten freigelassen wurden. Details wurden nie bekannt. Doch 2017 sollen 82 Chibok-Mädchen gegen fünf Boko-Haram-Mitglieder ausgetauscht worden sein.
Viele der Mädchen waren Christinnen
Nigerias Norden ist muslimisch geprägt, und in zwölf Bundesstaaten gilt die Scharia. Dennoch gibt es Gegenden, in denen zahlreiche Christen wohnen. Auch die Mädchen von Chibok waren mehrheitlich Christinnen. In ihrer Gefangenschaft wurden sie gezwungen, zum Islam zu konvertieren und zwangsverheiratet. Ein Teil hatte bei der Befreiung Kinder.
Dass das Schicksal der Chibok-Mädchen weltweit so viel Aufmerksamkeit erhielt, dafür sorgte die Bewegung #BringBackOurGirls. Einen so lauten Protest der Zivilgesellschaft, dem sich Politiker wie Vertreter von Kirchen und Moscheen anschlossen, hatte Nigeria bis dahin noch nie erlebt. Die frühere Bildungsministerin und Mitbegründerin von Transparency International, Oby Ezekwesili, organisierte ihn ebenso wie die Aktivistin Aisha Yesufu. Mitunter nahmen an den täglichen Treffen am „Brunnen der Einheit“ im Zentrum der Hauptstadt Abuja mehr als 100 Menschen teil.
Ihre Wut richtete sich allerdings längst nicht nur gegen den islamistischen Terror, sondern ebenso gegen Nigerias Regierung und ihre Sicherheitskräfte. Ihrer Einschätzung nach hatte diese die Gefahr, die von Boko Haram ausgeht, ignoriert. Tatsächlich befreite die nigerianische Armee ab 2015 tausende Menschen – die meisten von ihnen Frauen und Kinder. Viele der Entführten waren in den Sambisa-Wald, den Rückzugsort der Gruppe, gebracht worden. Anderen gelang die Flucht allerdings auch eigenständig.
Zehn Jahre nach der Massenentführung von Chibok zieht Aktivistin Aisha Yesufu ein ernüchterndes Fazit. In ihrer Videobotschaft betont sie, dass es fast täglich zu Entführungen in Nigeria kommt. „Sie gleichen der von Chibok sehr.“ Erst Anfang März wurden im Bundesstaat Kaduna mehr als 280 Schüler der staatlichen Grundschule und der weiterführenden Schule verschleppt. Immerhin konnte knapp die Hälfte mittlerweile befreit werden.
Die mutmaßlichen Täter sind heute weniger islamistische Terroristen, sondern vielmehr bewaffnete Gruppierungen, die Lösegeld erpressen. Gleich, welches Motiv dahinter steckt: Das Leid der Familien sei enorm, so die Aktivistin. Doch noch etwas anderes hätten die Opfer gemeinsam: Sie sind arm, leben in schlecht geschützten Gegenden und würden von Verantwortlichen ignoriert. „Ihre Leben sind nichts wert“, so Aisha Yesufu. Sie fragt: „Wann zählt endlich das Leben der Armen in Nigeria?“