Serbien im Umbruch – Wahlen als Neubeginn?
Belgrad ‐ Nach mehreren Amokläufen und Großprotesten hat Serbiens Präsident Vucic im November das Parlament aufgelöst; am 17. Dezember wird neu gewählt. Im Interview berichtet Erzbischof Ladislav Nemet, wie er die Lage erlebt.
Aktualisiert: 07.12.2023
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Auf Belgrads Straßen demonstrieren die Massen. Die junge Elite wandert in den Westen ab, und auch von ökumenischer Seite bahnt sich etwas an. Serbien befindet sich im Umbruch. Wie es womöglich nach den Wahlen am 17. Dezember weitergeht, darüber spricht Belgrads Erzbischof Ladislav Nemet (67) im KNA-Interview.
Frage: Herr Erzbischof, wie geht es den Katholiken als religiöse Minderheit in Serbien?
Nemet: Wir sind im doppelten Sinne Minderheit, ethnisch und religiös. Das kann man in Serbien nur schwer voneinander trennen. Der Großteil der Katholiken sind ethnische Ungarn, der Rest Kroaten, Slowaken und andere Volksgruppen. Gesetzlich haben wir als Minderheit fast alle Möglichkeiten, aber nicht die finanziellen Mittel. Für Schulen, Altersheime oder Sozialeinrichtungen bekommen wir keine staatliche Unterstützung.
Frage: In Deutschland und Österreich verlassen immer mehr Menschen die Kirche. Auch in Serbien?
Nemet: Nein, dieses Phänomen kennen wir nicht. Es ist eine Spezialität des deutschsprachigen Raums und liegt vermutlich an den eingehobenen Steuern. Ohne sie gäbe es das Problem auch in Deutschland nicht.
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Frage: Was halten Sie vom Reformkurs von Papst Franziskus?
Nemet: Er hat klar gezeigt, dass er eine synodale Kirche haben will. In zehn Jahren seines Papsttums ist es ihm gelungen, diese Idee zu verwirklichen. Das ist durchaus eine Möglichkeit, die Kirche und die Rolle zu interpretieren, die die Menschen darin spielen. Franziskus setzt den Akzent auf die Laien. Er will, dass sie aktiv am Kirchenleben teilnehmen – und nicht nur als Mitarbeiter von Klerikern agieren.
Frage: Wie bewerten Sie die Beziehung zur serbisch-orthodoxen Kirche?
Nemet: Es funktioniert wie in einer Union mit verschiedenen Akzenten. 30 Jahre nach den Jugoslawien-Kriegen hat sich die Beziehung gebessert. Der Krieg in Ex-Jugoslawien war schrecklich: Nicht nur wurden Menschen getötet, Vermögen zerstört und es gab ethnische Säuberungen; mehr noch, es wurde ein tiefer Hass zwischen Angehörigen verschiedener Religionen geschürt. Religion spielte zwar keine große Rolle für den Kriegsausbruch oder -verlauf, wohl aber für die Identitätsfrage der Menschen. Man brauchte fast 20, 25 Jahre, um wieder gut miteinander auszukommen. Während einige orthodoxe Bischöfe immer noch nichts mit uns zu tun haben wollen, ist der neue Patriarch offen und gibt uns die Hoffnung auf eine gute Beziehung.
„Die Menschen haben Erwartungen, dass es nach den Wahlen besser laufen wird.“
Frage: Im Mai sorgten zwei Amokläufe binnen zwei Tagen für Entsetzen; 18 Menschen wurden getötet. Wie haben Sie den Tag erlebt?
Nemet: Eine der beiden Schulen befindet sich nur 100 Meter von der Erzdiözese entfernt. Ich trank Kaffee mit einigen Priestern, als wir Polizeisirenen hörten. Als ich um zehn zu einer Pfarrei aufbrach, war der ganze Block abgeriegelt. Gerüchte gingen um. Um zwölf Uhr hatten wir dann Gewissheit, dass der Wachmann und acht Kinder getötet wurden; ein weiterer Schüler starb eine Woche später im Krankenhaus. Es war ein Schock für uns alle; denn das hat uns vor Augen geführt, dass so etwas auch in unserer Gesellschaft passieren kann.
Frage: Seither gibt es fast wöchentlich Proteste; Präsident Aleksandar Vucic hat für Mitte Dezember Neuwahlen ausgerufen – eine Wende in der serbischen Politik?
Nemet: Der Aufschrei im Volk war riesengroß und hat dazu geführt, dass Menschen, die früher nichts mit Parteien zu tun hatten, eine neue Bürgerbewegung gründeten: „Serbien gegen Gewalt“. Sie wird am 17. Dezember bei den Wahlen antreten. Wir werden sehen, wohin das führt.
Frage: Was hat sich seither verändert?
Nemet: Vor jeder Schule stehen jetzt zwei Polizisten; aber das ist die einzige konkrete Folge, die wir sehen. Einige Schulen haben Sicherheitsschleusen eingebaut. Vielen ist das ist aber zu teuer.
Frage: Unterstützen Sie die Massenproteste?
Nemet: Ich verstehe die Leute. Die serbische Gesellschaft steht stark unter dem Einfluss einer Waffenkultur und von Gewaltverherrlichung. Dazu tragen verschiedene Fernsehkanäle bei; selbst das staatliche Fernsehen ist nicht ganz unschuldig. Ich unterstütze alles, was gegen Gewalt geht.
Frage: Wie blicken Sie auf die bevorstehenden Wahlen?
Nemet: Die Menschen haben Erwartungen, dass es nach den Wahlen besser laufen wird. Falls das tatsächlich Realität wird, würden auch nicht mehr so viele junge Menschen das Land verlassen. Ursprünglich nahm man an, nur ethnische Minderheiten würden gehen, weil sie Doppelpässe aus den Nachbarstaaten erhalten haben. Aber die Serben gehen noch schneller. Wir verlieren die besten, intelligentesten und tüchtigsten Menschen. Es ist hierzulande fast unmöglich, noch gute Fachleute für Reparaturen zu finden. Ich kenne so viele Menschen, die gute Arbeit leisten, aber von einem Tag auf den anderen ins Ausland verschwinden – und dort bleiben.
Frage: Serbien ist EU-Beitrittskandidat. Unterstützen Sie die europäische Integration?
Nemet: In meinen Augen wäre es nur normal, würde Serbien als Mitglied der EU beitreten. Seine Kinder sind schließlich schon dort. In den vergangenen Jahren haben fast eine Million Bürger das Land verlassen. Aber sie gingen nicht nach Moskau. Warum wohl...?
Die Fragen stellte Markus Schönherr (KNA)