Keinen Bock mehr auf Versteckspiel
Rund 91.000 Menschen in Deutschland sind HIV-positiv. Aufklärung tut Not – immer noch, sagen Christoph Schreiber, ein Mann, der mit dem Virus lebt, und Hannelore Huesmann, eine Ordensschwester, die Aids-Kranke pflegt.
Aktualisiert: 30.11.2023
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Es fing an mit einer harmlosen Mandelentzündung. Christoph Schreiber war damals 19 Jahre alt. „Es wurde immer schlimmer, ich bekam Fieber, wurde ins Krankenhaus eingeliefert. Die machten sich dann auf die Suche nach der Ursache“, erzählt der 37-Jährige an diesem Novemberabend in seiner Berliner Wohnung.
Er erinnert sich noch genau daran, wie ihn der Stationsarzt bat, mit ihm ins Arztzimmer zu kommen. „Dort hat er es mir dann gesagt“, erzählt Schreiber, ein großer, breitschultriger Mann mit dunklem Haar und dunklen Augen. So richtig angekommen sei die Diagnose bei ihm aber erst später –„ich war sehr krank und habe es nicht so wirklich realisiert. Vielleicht war das ganz gut.“ Fast 60 Kilo nahm er ab, wurde wochenlang aufgepäppelt.
„Ich bin jemand, der sich wahnsinnig über Kleinigkeiten aufregen kann: Wenn zum Beispiel jetzt diese Teetasse kaputt geht“, erzählt der Verwaltungsfachangestellte. Größere Dinge wie einschneidende Lebensveränderungen oder Schicksalsschläge könne er besser annehmen. „So war es auch mit der HIV-Diagnose. Ich habe mir gesagt, dass ich es sowieso nicht ändern kann“, sagt Schreiber.
Rund 91.000 Menschen in Deutschland sind nach Zahlen des Robert-Koch-Instituts derzeit HIV-positiv. Etwa 9.000 Menschen mit HIV wissen nach Hochrechnungen nichts von ihrer Infektion. HIV wird in erster Linie durch Menschen übertragen, deren HIV-Infektion noch nicht diagnostiziert wurde – mitunter leben sie unbewusst jahrelang damit, ohne Symptome zu entwickeln. Grundsätzlich ist bei Spätdiagnosen die Sterblichkeit aber höher, weil die Infektion nicht rechtzeitig behandelt werden kann.
Hohe Lebenserwartung bei rechtzeitiger Entdeckung
Schreiber kann mit seiner Infektion ein normales Leben führen. Er bekommt alle zwei Monate zwei Spritzen, mit der die Viruslast unter der Nachweisgrenze gehalten wird. Und auch ansteckend ist eine HIV-Infektion, wenn sie dauerhaft behandelt wird, nicht. Sie kann dann weder beim Sex noch bei einer Schwangerschaft und Geburt von einer HIV-positiven Mutter auf das Kind übertragen werden. Die Lebenserwartung ist bei Menschen mit einer frühzeitig entdeckten HIV-Infektion und erfolgreicher Behandlung heutzutage genauso lang wie ohne Infektion.
Schreiber, der homosexuell ist, hat die Erfahrung gemacht, dass die schwule Community in der Regel gut über das Thema informiert sei. „Bei den Heteros könnte es aber besser sein“, findet er. Eine Einschätzung, die Ordensschwester Hannelore Huesmann teilt. Die Franziskanerin ist Mitbegründerin von „Tauwerk“, einem ambulanten Hospizdienst für Menschen mit Aids in Berlin. Aids ist das schwere und in der Regel tödliche Krankheitsbild, das entsteht, wenn das HI-Virus das Immunsystem des Körpers zerstört. Durch rechtzeitige Diagnose und Behandlung ist es heutzutage meist vermeidbar.
„Ich habe schon Leute gesprochen, die dachten, sie könnten ja gar nicht infiziert sein, da sie doch verhütet hätten – mit der Pille“, erzählt Schwester Hannelore. Immer noch gebe es Menschen, die meinten, das Thema beträfe sie nicht: „Die sagen dann: Ich bin nicht schwul, habe nichts mit Prostitution zu tun, nehme keine Drogen. Ich kann mich also nicht anstecken. Es gibt aber keine Risikogruppen. Nur Risikoverhalten – wie etwa Sex ohne Kondom“, sagt sie. Nach 40 Jahren HIV-Geschichte sei sie schon manchmal erstaunt bis frustriert – „wenn etwa ernsthaft gefragt wird, ob Speichel infektiös sei“.
Auch Christoph Schreiber sind nach seiner Infektion Fragen gekommen – wieso er sich beim Sex nicht richtig geschützt habe, zum Beispiel. Jemand anderen für seine Infektion verantwortlich gemacht hat er aber nie. „So habe ich nie gedacht“, sagt er. „Zu einer Infektion gehören immer zwei. Jeder ist für seinen Schutz selbst verantwortlich.“
Diskriminierende Einstellungen gibt es immer noch
Lange hat er die Infektion geheim gehalten. „Bei Verabredungen fragt man sich dann aber immer, wann man es sagt, wann der richtige Zeitpunkt ist. Man schleppt es die ganze Zeit mit sich rum“, erzählt er. Das sei schwierig gewesen. Und auch seine Kollegen wollte der Angestellte einer Bundesbehörde nicht mehr anlügen müssen, wenn sie fragten, was er am Wochenende gemacht habe – und er bei einem bundesweiten Treffen für HIV-positive Menschen gewesen war.
Seit acht Jahren geht er offensiv mit der Krankheit um. Auf das Versteckspiel „hatte ich einfach keinen Bock mehr“, sagt er. Er hat für sich beschlossen, dass es ihm egal sein kann, was andere denken – und fühlt sich seitdem erleichtert. Es müsse aber jeder für sich selbst entscheiden, wie viel er seinem Umfeld erzählen möchte, betont er.
Dass sich viele Menschen davor scheuen, liegt vielleicht auch daran, dass diskriminierende Einstellungen gegenüber Menschen mit HIV immer noch existieren. Auch Schreiber, der den Selbsthilfe-Verein pro plus berlin mitgegründet hat und dort im Vorstand sitzt, weiß, dass Diskriminierung von Menschen mit HIV oder Aids nach wie vor ein Thema ist. „Es gibt Leute, die wollen lieber nicht aus derselben Kaffeetasse trinken“, erzählt er. Laut einer Umfrage der Deutschen Aidshilfe von 2020 gaben 95 Prozent an, im vorangegangenen Jahr mindestens einmal diskriminierend behandelt worden zu sein – vor allem im Gesundheitsbereich.
Schwester Hannelore sagt, dass die Angst vor Diskriminierung auch ein Grund sei, warum manche Menschen erst gar nicht zum Test gingen, auch wenn sie vielleicht wüssten, dass es Risikosituationen gegeben habe und Safer Sex vielleicht nicht immer praktiziert worden sei. „Sie haben auch Angst davor, wie das Umfeld reagiert.“ Hinzu komme, dass das Thema HIV mit dem Thema Sexualität zu tun habe – „und diese nach wie vor ein gesellschaftliches Tabu ist, auch wenn wir deutlich besser aufgeklärt sind als in den 50er Jahren.“
Tauwerk, das sie vor mehr als 25 Jahren mitgegründet hat, um ein Zeichen der Solidarität mit HIV-Infizierten und an Aids erkrankten Menschen zu setzen, habe vor allem das Ziel, Menschen mit Aids am Ende ihres Lebens mit ihren Bedürfnissen ernst zu nehmen. „Wir können die Diagnose nicht ändern, aber wir versuchen den Menschen durch unsere Begleitung ein Stück Lebensqualität zurückzugeben“, sagt die 63-Jährige. „Wir wollen die Menschen erfahren lassen, dass sie eine Würde haben, die ihnen niemand nehmen kann – auch keine Krankheit.“