An einem Pullover ist eine Aids-Schleife befestigt

HIV und AIDS – Vergessen und doch präsent

HIV/AIDS ist nach wie vor eine Epidemie, die weltweit das Schicksal von Millionen Menschen bestimmt. Es ist wichtig, sich diesen Fakt stets neu vor Augen zu halten. Denn gerade in Deutschland und Westeuropa bekommt man den Eindruck, dass die Krankheit vergessen wurde.

Erstellt: 01.06.2022
Aktualisiert: 26.07.2022
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HIV/AIDS ist nach wie vor eine Epidemie, die weltweit das Schicksal von Millionen Menschen bestimmt. Es ist wichtig, sich diesen Fakt stets neu vor Augen zu halten. Denn gerade in Deutschland und Westeuropa bekommt man den Eindruck, dass die Krankheit vergessen wurde.

Die Zeiten der großen Aufklärungskampagnen zu HIV/AIDS und „safer sex“ sind bei uns längst vorbei. Mit dem Verschwinden von Werbespots und Plakatwänden ist bei uns auch das Bewusstsein geschwunden, dass der Kampf gegen diese Krankheit noch lange nicht vorbei ist. So haben die Vereinten Nationen im Jahr 2014 das Ziel ausgegeben, bis 2030 den Kampf gegen HIV/AIDS gewinnen zu wollen. Das heißt freilich nicht, dass es dann keine infizierten oder erkrankten Menschen mehr geben soll; aber die Zahl der Neuinfektionen und der tödlichen Ausgänge der Erkrankung sollen drastisch sinken und vor allem sollen die sozialen Benachteiligungen und Diskriminierungen gegenüber Menschen mit HIV/AIDS verschwinden.

Zahlen und Fakten

Nach den Zahlen von UNAIDS lebten im Jahr 2020 etwa 37,7 Million Menschen mit HIV. Im Vergleich zum Jahr 2016 bedeutet diese Zahl ein Zuwachs von rund einer Million Menschen. Trotz dieses Anstiegs können weitere Entwicklungen vorsichtig hoffnungsvoll stimmen. So sank die Zahl der Neuinfektionen im selben Zeitraum von 1,8 auf 1,5 Millionen. Ebenso ist die mit HIV/AIDS verbundene Sterberate rückläufig: Musste die Welt im Jahr 2020 680.000 Tote beklagen, waren es im Jahr 2016 noch eine Million.

Wie weit der Weg aber noch ist, um das Ziel der Vereinten Nationen zu erreichen, zeigt eine andere Zahl: Von den infizierten Menschen haben lediglich 27.4 Millionen, also rund 73 Prozent Zugang zur antiretroviralen Therapie. Für etwa ein Viertel der Infizierten, darunter 800.000 Kinder, blieb die Behandlung bisher unerreichbar. Immerhin ist ein deutlicher Anstieg an therapierten Personen zu verzeichnen. Im Jahr 2016 lag der Wert noch bei 57 Prozent. Die antiretroviale Therapie ist die bisher einzige effektive Behandlung, die zwar nicht im engen Sinn zu heilen vermag, aber den Ausbruch von AIDS so lange verzögern kann, dass eine normale Lebenserwartung möglich ist – vorausgesetzt die Mittel stehen zur Verfügung und werden lebenslang kontinuierlich und in der richtigen Dosierung eingenommen.

Zum Erscheinungsbild von HIV und AIDS gehört es, dass die verschiedenen Weltregionen unterschiedlich stark betroffen sind. So leben allein auf dem afrikanischen Kontinent etwa zwei Drittel (67 Prozent) aller weltweit mit HIV infizierten Menschen. Aber auch innerhalb von Afrika zeigt sich eine sehr ungleiche Verteilung. So wütet die Epidemie vor allem im subsaharischen Afrika, während Nordafrika nur verhältnismäßig gering betroffen ist.

Auch wenn diese Zahlen bereits deutlich das Ausmaß der Epidemie aufzeigen, darf nicht vergessen werden, dass hier nur ein Ausschnitt aus der HIV/AIDS-Realität aufgezeigt wird. Denn hinter diesen Zahlen der direkt Betroffenen verbirgt sich eine – vermutlich – noch höhere Anzahl an indirekt Betroffenen: Ehepartner, die in die Pflege eingebunden sind. Familien, die ihren Hauptversorger verloren haben. Kinder, die als Waisen aufwachsen. Kinder, die für die finanzielle Versorgung ihrer Familien verantwortlich sind.

Antworten auf HIV/AIDS

Obwohl AIDS zweifelsohne eine Krankheit ist, kann der Kampf dagegen nicht allein auf medizinischem Weg gewonnen werden. Analysen über Ausbreitungsweisen zeigen deutlich, dass eine Vielzahl von Faktoren die Verbreitung des Virus begünstigen. Auf individueller Ebene spielt sicherlich das eigene Verhalten eine große Rolle. Also die Vermeidung von Risikokontakten, Treue innerhalb von Partnerschaften und die Nutzung von Schutzmaßnahmen. Diese Strategien liegen auch dem bekannten ABC-Ansatz (abstinence, be faithful, condoms) zu Grunde, der eine Verbreitung des Virus verhindern soll. Individuelle Schutzmaßnahmen und auf das Verhalten einzelner abzielende Ratschläge stoßen aber in aller Regel dort an eine Grenze, wo sie von sozialen und kulturellen Normen, Gegebenheiten und Wertvorstellungen konterkariert werden:

  • Welchen Schutz kann Enthaltsamkeit in einer Gesellschaft bieten, wenn Frauen zu Geschlechtsverkehr gezwungen werden oder den Familienunterhalt als Sexarbeiterinnen verdienen müssen?
  • Wie kann Treue schützen, wenn in manchen Gesellschaften Treue nur von der Frau erwartet wird und es dem Mann erlaubt ist, außereheliche Sexualpartnerinnen zu haben?
  • Auch wenn der Kondomgebrauch eine relative Sicherheit bei sexuellen Risikokontakten ermöglicht, muss gefragt werden, wie z.B. Frauen auf Kondomnutzung bestehen können, wenn in ihrer Gesellschaft Männer über Sexualpraktiken bestimmen dürfen? Wie vertagen sich Kondome mit dem in vielen Kulturen vorherrschendem Ideal der Fruchtbarkeit?

Diese und andere Beispiele zeigen, dass ein geeigneter Präventionsansatz nicht auf das Individuum beschränkt sein kann, vielmehr müssen auch soziale Komponenten in den Fokus gerückt werden. Weiterhin müssen noch andere gesellschaftliche Faktoren beachtet werden: Armut, medizinische Infrastruktur, Bildungsniveau etc.

Ein weiteres großes Problem aller Präventionsmaßnahmen ist die Stigmatisierung und Diskriminierung von Menschen mit HIV/AIDS. Diese vielfach zu findende gesellschaftliche Exklusion erzeugt häufig ein Klima der Angst bei den Betroffenen. Diese Angst mündet in der Regel in Schweigen: Infizierte Menschen verschweigen ihren HIV-Status oder suchen keine medizinische Hilfe aus Angst vor gesellschaftlicher Diskriminierung. Dies kann nicht nur schwerwiegende gesundheitliche Folgen für diese Menschen haben, sondern erhöht auch die Gefahr für Dritte unwissentlich einen Risikokontakt zu haben.

Ein effektiver Präventionsansatz gegen HIV/AIDS kann also nicht auf einen Einflussfaktor begrenzt werden. Es braucht tatsächlich eine multidimensionale Strategie, die ­– natürlich neben einer adäquaten medizinischen Versorgung –individuelles Verhalten, ökonomische Situation, soziale und kulturelle Wertvorstellungen und Deutungsmuster, sowie strukturelle Gegebenheit in den Blick nimmt und transformiert.

Und die katholische Kirche?

Gerade in den ärmsten Ländern dieser Welt leistet die katholische Kirche einen immens wichtigen Beitrag in der Begleitung und Behandlung infizierter und erkrankter Menschen. Oftmals verfolgt sie dabei ­– im Rahmen ihrer Möglichkeiten – einen Ansatz, der sich an der komplexen Ausbreitungssituation von HIV/AIDS orientiert. So ruft sie zu verantwortlichem Handeln auf, bietet medizinische Hilfe an, unterhält Schulen und leistet seelsorgerliche und spirituelle Begleitung.

Dennoch muss resümiert werden, dass die Kirche nicht nur eine Akteurin im Kampf gegen HIV/AIDS ist, sondern auch Teil des „Ausbreitungssystems“ ist. So zeigen Untersuchungen, dass die Kirche die gesellschaftliche Exklusion von Infizierten und Erkrankten durch bestimmte Praktiken und Äußerungen unterstützt. Aber auch innerhalb der Kirche gibt es Ausgrenzungstendenzen, so dass sich Betroffene nicht angenommen fühlen und das Klima der Angst und des Schweigens sich auch in der Kirche breit gemacht hat. Auch die kirchliche Position zum Kondomgebrauch, ihre Verknüpfung von Sexualität und Fruchtbarkeit und ihre Position zu Gender erschweren oft eine hilfreiche HIV-Prävention.

HIV und AIDS ist und bleibt eine Herausforderung für die Weltgemeinschaft und die Kirche. Denn mit dieser Erkrankung sind nicht nur Millionen tragischer Einzelfälle verbunden, zugleich wirkt der Virus auch gleichsam wie ein Scheinwerfer, der soziale und strukturelle Ungerechtigkeiten in Gesellschaft und Kirche ans Licht bringt. Blickt man auf die nun etwa 40-jährige AIDS-Geschichte zurück, kann gesagt werden, dass viele wichtige Schritte schon unternommen wurden; es ist aber noch ein langer und steiniger Weg, bis diese Krankheit überwunden ist.

Von Dr. Markus Patenge/IWM/Justitia et Pax

Stand: März 2022 (Zuletzt bearbeitet 15.03.2022 LSP)