Im Norden Nigerias werden zehntausende Menschen vermisst
Abuja ‐ Entführungen sind in Nigeria ein Riesenproblem. Tausende wurden in den vergangenen Jahren von Terroristen verschleppt. Doch auch die Armee ist beteiligt. Viele Familien wissen nicht, wo ihre Angehörigen sind.
Aktualisiert: 13.11.2023
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Es gibt keine Informationen. Niemand weiß, ob sie noch leben oder längst umgekommen sind; wie es ihnen geht, ob sie ausreichend Essen bekommen und wo sie gefangen gehalten werden. Mehr als 23.000 Menschen im Nordosten Nigerias wurden nach Einschätzung der Menschenrechtsorganisation Amnesty International und lokaler Partner allein im Bundesstaat Borno verschleppt. Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) hat bis August 2022 rund 25.000 Fälle im Nordosten registriert. Allerdings ist die Datenlage schlecht; die Dunkelziffer könnte höher sein.
Verantwortlich dafür ist neben den Terrorgruppen Boko Haram und dem „Islamischen Staat in der Westafrikanischen Provinz“ (ISWAP), der sich 2016 von Boko Haram abgespalten hat, auch die nigerianische Armee. Amnesty erhebt schwere Vorwürfe. Isa Sanusi, Leiter des Büros in der Hauptstadt Abuja, sagt im Gespräch mit der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA): „Zu großen Teilen sind es die Streitkräfte. Sie unterhalten geheime Gefängnisse, wo sie Menschen ohne Haftbefehl festhalten. Es gibt keine Gerichtsverfahren.“ Die Folgen seien gravierend: „Viele sind gestorben, ohne dass ihre Familien informiert wurden.“
Die Anschuldigungen lauten meist: Die Festgehaltenen seien mutmaßliche Terroristen. Besonders betroffen sind Jugendliche und junge Männer. Menschenrechtler kritisieren seit Jahren, dass unter den Opfern auch Kinder seien. „Dabei haben sie in der Regel gar nichts mit Boko Haram zu tun. Sie lebten nur in Gegenden, die mal von Boko Haram kontrolliert wurden. Sie sind zu Opfern geworden“, so Sanusi.
Amnesty International fordert, dass solche Fälle rechtlich aufgearbeitet werden. Die Organisation hat Klage beim Gericht der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft (ECOWAS) eingereicht. Die Justiz der Regionalorganisation soll den Staat Nigeria auffordern, Ermittlungen aufzunehmen. „Bislang gibt es keine Anzeichen, dass die Regierung Verantwortung für das Verschwinden der Menschen übernimmt.“
Allerdings ist auch die 2001 gegründete Miliz Boko Haram für die Verschleppung Tausender verantwortlich. Die bekannteste Massenentführung fand 2014 in der Kleinstadt Chibok in Borno statt; 276 Schülerinnen wurden als Geiseln genommen. Nach Angaben der kurz darauf gegründeten Bewegung #BringBackOurGirls werden bis heute noch 96 von ihnen vermisst.
Noch immer verschwinden Menschen
Welche Konsequenzen das im Nordwesten Nigerias hat, erlebt Maurice Kwairanga regelmäßig. Der katholische Priester leitet in Yola, Hauptstadt des Bundesstaates Adamawa, das Caritas-Komitee für Gerechtigkeit, Entwicklung und Frieden. 2014 und 2015 waren rund um die Kathedrale Tausende Binnenvertriebene untergebracht. Bis heute suchen viele verzweifelt nach ihren Angehörigen. „Am internationalen Tag der Verschwundenen habe ich an einer Gedenkveranstaltung des Roten Kreuzes teilgenommen. Ich war entsetzt, wie viele Angehörige dort waren. Manche vermissten nicht nur eine Person, sondern drei oder vier.“ Die Menschen trauerten; die Stimmung sei wie bei einer Beerdigung gewesen, so Kwairanga. „Nur die Leichen haben gefehlt.“
Ab und zu gibt es allerdings auch Erfolge, so der Priester. „In einem der Flüchtlingslager war ein Junge aus dem Tschad. Seine Familie konnte ermittelt werden – und er zurück in den Tschad reisen.“
Boko Haram hat zwar längst nicht mehr solchen Einfluss im Nordosten wie einst. Ende August wurden im Bundesstaat Borno dennoch mindestens 42 Frauen entführt, wie ein Sprecher der Regionalregierung bestätigt. Anders als bei früheren, vor allem politisch motivierten Entführungen wurde pro Frau ein Lösegeld von umgerechnet 55 US-Dollar gefordert. Nach wenigen Tagen wurden die Frauen freigelassen.
Im Bundesstaat Yobe wurden Anfang November an zwei aufeinanderfolgenden Tagen nach Informationen der Zeitung „The Punch“ knapp 40 Menschen ermordet. Bei den Tätern könnte es sich demnach um Anhänger von ISWAP handeln.