„Massenflucht ist Ausdruck fehlender Perspektive“
Caracas ‐ Die Bevölkerung in Venezuela wolle Wahlen unter akzeptablen Bedingungen, sagt Kardinal Baltazar Porras. Das sei der einzige Weg, die Krise friedlich zu lösen. Ob es aber dazu kommt, ist fraglich.
Aktualisiert: 20.04.2023
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Im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) spricht der Erzbischof von Caracas über Armut, Massenflucht und die Aussichten im Krisenland Venezuela.
Frage: Herr Kardinal, wie beurteilen Sie die aktuelle Situation in Venezuela?
Kardinal Porras: Die Lage ist besorgniserregend, die Menschenrechtslage schlecht. Die Armut nimmt in einem großen Teil der Bevölkerung weiter zu; das schafft großes wirtschaftliches und soziales Ungleichgewicht. Die anhaltende Massen-Migration, vor allem der jungen Bevölkerung, ist Ausdruck fehlender Möglichkeiten und Perspektiven im Land.
Vor allem im Landesinneren ist der Mangel an den grundlegendsten Gütern sehr groß. Es gibt zwar ein Angebot an vielen Produkten, die früher nicht verfügbar waren; aber die überwiegend arme Bevölkerung kann diese Waren gar nicht bezahlen. Die Kaufkraft der Menschen reicht nicht aus, um den Grundbedarf einer Familie zu decken.
Frage: Jüngst gab es Berichte über Verhaftungen ranghoher Funktionäre und Politiker in Zusammenhang mit einem Korruptionsfall beim staatlichen Ölkonzern PDVSA. Ist Korruption mitverantwortlich für die katastrophale Lage der venezolanischen Ölindustrie?
Porras: Korruption ist ein endemisches Übel, das sich immer dann ausbreitet, wenn ein Gleichgewicht der Kräfte und eine Kontrolle fehlen. Das Vorgehen in diesem Fall scheint mir eher eine Abrechnung zwischen verschiedenen Machtsektoren zu sein. Und es wirkt wie ein Versuch, der internationalen Öffentlichkeit ein Beispiel für „gutes Verhalten“ vorzuführen. Der Fall zeigt, dass die Spitze des wichtigsten Rohstoffproduzenten des Landes stärker kontrolliert werden muss. Hinzu kommt: Sanktionen begünstigen einen undurchsichtigen Umgang mit Erdöl und Erdgas. Das Fehlen von Informationen fördert eine Desinformation.
„Korruption ist ein endemisches Übel“
Frage: Was halten Sie von dem Vorschlag von Kolumbiens Präsident Gustavo Petro, eine internationale Venezuela-Konferenz in Kolumbien zu organisieren?
Porras: Alles, was zu einem besseren Verständnis der Realität des Landes beiträgt, und jede Bemühung, einen Dialog zwischen den Parteien zu ermöglichen, ist zu begrüßen. Derartige Bemühungen sind jedoch in der Vergangenheit vielfach gescheitert. Solche Erfahrungen haben in der Bevölkerung Misstrauen und Zweifel entstehen lassen. Diese Haltung kann nur dann korrigiert werden, wenn Ergebnisse erzielt werden, die zum Wohl der Bevölkerung und nicht nur derer sind, die an den Gesprächen teilnehmen.
Frage: Wie schätzen Sie die Chancen auf freie und transparente Wahlen im nächsten Jahr ein?
Porras: Die Venezolaner wollen Wahlen unter akzeptablen Bedingungen; sie wollen friedliche Lösungen und keine Gewalt. Bislang gibt es weder von Seiten der Regierung noch von den Oppositionsparteien ernsthafte Bemühungen, um das zu erreichen. Es gibt allerdings viele Anstrengungen aus den Reihen der Zivilgesellschaft, die sich aktiv an einer Lösung beteiligen wollen; zum Beispiel von Unternehmern, Gewerkschaften, Akademikern und weiteren Gruppen. Wir als Kirche fordern alle Seiten zu einer konstruktiven Haltung auf, um Voraussetzungen zu schaffen, dass eine Lösung der Probleme durch Wahlen gefunden werden kann.
Frage: Zuletzt hat Präsident Nicolas Maduro nach einem Streit mit den katholischen Bischöfen angekündigt, die evangelikalen Kirchen stärken zu wollen. Was halten Sie davon?
Porras: Dass die Regierung Beziehungen zu allen Kirchen unterhält, ist normal. Auch wenn das einige Kreise als Provokation ansehen und der Meinung sind, dass den evangelikalen Kirchen mehr Bedeutung eingeräumt wird, als sie eigentlich haben.
Die Fragen stellte Tobias Käufer
KNA