Afrikas vergessene Krise

Am Tschadsee sind elf Millionen Menschen auf Hilfe angewiesen

Abuja ‐ Trotz Militäroffensiven haben Terrorgruppen rund um den Tschadsee Dörfer besetzt und eigene Strukturen errichtet. Was ihnen dabei hilft, ist der Klimawandel, der die Existenz von Millionen Menschen bedroht.

Erstellt: 07.02.2023
Aktualisiert: 16.02.2023
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Von Katrin Gänsler (KNA)

Die Zahlen, die das Amt der Vereinten Nationen zur Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) regelmäßig veröffentlicht, sinken seit Jahren nicht signifikant. Aktuell sind rund um den Tschadsee mit den Anrainerstaaten Nigeria, Niger, Tschad und Kamerun elf Millionen Menschen auf Hilfe und Schutz vor Gewalt angewiesen. Knapp drei Millionen Menschen sind auf der Flucht, die große Mehrheit (2,7 Millionen) im eigenen Land. Besonders betroffen ist Nigerias Bundesstaat Borno mit mehr als 1,6 Millionen Binnenvertriebenen. Die offizielle Zahl bleibt seit Jahren konstant. Wie hoch sie allerdings tatsächlich ist, bleibt unklar. Gerade in entlegenen Regionen mit schwacher staatlicher Präsenz lassen sich keine Daten erheben.

Die Region rund um Afrikas viertgrößten Binnensee befindet sich mittlerweile im 14. Jahr eines schweren Konflikts, der mehr und mehr in Vergessenheit gerät und international kaum noch Beachtung findet. Bereits 2021 sprachen die Vereinten Nationen von rund 350.000 Toten. 2022 wurden 917 Vorfälle registriert.

War in den Anfangsjahren vorwiegend die nigerianische Terrorgruppe Boko Haram für die Gewalt verantwortlich, ist es nun der sogenannte Islamische Staat in der Westafrikanischen Provinz (ISWAP). 2016 hat er sich von Boko Haram abgespalten. Anfangs gab es Hoffnung, dass sich beide Gruppen bei Kämpfen um Einfluss und Territorium gegenseitig schwächen. Bestätigt hat sich das nicht. Die Ermordung von Anführer Abubakar Shekau im Mai 2021 führte zwar zu einer Schwächung von Boko Haram, aber längst nicht zum Ende der Terrorgruppe.

Seit Jahren beobachten Denkfabriken wie die International Crisis Group oder das Institute for Security Studies mit Sitz in Südafrika stattdessen, dass vor allem ISWAP ganze Dörfer besetzt und eigene Kontrollen und Strukturen aufbaut, beispielsweise ein eigenes Steuersystem. Damit füllt die Miliz eine Lücke des Staates; denn der war auch schon vor Ausbruch des Konflikts in ländlichen Regionen wie rund um den Tschadsee kaum präsent. Es mangelt an Schulen, Krankenversorgung und Infrastruktur wie Straßen.

Ein Polizeibeamter, der heute nicht mehr im Dienst ist, schätzte 2018, dass 80 Prozent der rund 370.000 Polizisten zum Schutz von Privatpersonen eingesetzt werden. Dass sich die Gewalt weiter ausbreitet, liege, so Nigerias scheidender Präsident Muhammadu Buhari Ende 2022, auch an einer steigenden Zahl von Waffen. Sie gelangten im Zuge der Krise im Sahel, aber vor allem durch den Krieg in der Ukraine in die Region.

Forscher wie Politiker halten jedoch mittlerweile einen anderen Aspekt für zentral: den Klimawandel. Das wurde auch im Rahmen der jüngsten, dritten Tschadsee-Konferenz deutlich. Koularambaya Koundja, Experte für Klimawandel im tschadischen Umweltministerium, sagt: „Die Beschädigung der Umwelt lässt natürliche Ressourcen schwinden.“ Die Menschen dort seien „enormem Druck ausgesetzt“. Es gebe Konflikte zwischen Farmern und Viehhirten, aber auch zwischen Viehhaltern, die bereits lange in der Region sind, und Neuankömmlingen auf der Suche nach den letzten Weideflächen.

Nach Einschätzung von Mamman Nuhu, Generalsekretär der Tschadsee-Kommission, hängen 45 bis 50 Millionen Menschen von dem Binnensee ab. Um Lösungen zu finden, müssten sie besser in Konzepte zur Lösungsfindung eingebunden werden.

Denn vom Klimawandel profitieren auch Terrorgruppen. Wissenschaftler des Projekts Managing Exits from Armed Conflict, einer Zusammenarbeit mehrerer UN-Forschungseinrichtungen, haben Ende 2022 in drei Ländern Daten zur Wechselwirkung von Klimawandel und Rekrutierung bewaffneter Gruppen erhoben. In Nigeria ergaben Umfragen, dass 15 Prozent der Befragten Menschen kannten, die wegen des Klimawandels Existenzprobleme hatten und sich deshalb Boko Haram anschlossen.

KNA

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