Parlament stimmt für Aufarbeitung von IS-Verbrechen an Jesiden
Tausende Jesiden wurden ab 2014 von der IS-Terrormiliz systematisch aus ihrer Heimat im Nordirak vertrieben oder ermordet. Der Bundestag hat die Verbrechen jetzt als Völkermord anerkannt und fordert weitere Aufarbeitung.
Aktualisiert: 19.01.2023
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Es war ein Tag, auf den die jesidische Gemeinde in Deutschland mit Sehnsucht gewartet hat. Der Bundestag hat am Donnerstag einstimmig die systematische Verfolgung und Ermordung von Jesiden im Nordirak durch die Terrormiliz des sogenannten „Islamischen Staates“ (IS) als Völkermord anerkannt. Mit den Stimmen aller Fraktionen machte sich das Parlament für eine historische und juristische Aufarbeitung stark. Tausende Jesiden wurden ab August 2014 vom IS aus ihrer Heimat vertrieben, versklavt oder ermordet.
Jesiden sind als nicht-muslimische Kurden in ihrer Heimatregion im nordirakischen Sindschar-Gebiet nahe Mossul eine doppelte Minderheit. Vor der Vertreibung und Ermordung durch den IS lebten mehr als eine halbe Million Jesiden in der Region. Mehrere Tausend werden nach Flucht und Vertreibung weiterhin vermisst oder befinden sich mutmaßlich noch in der Gewalt der IS-Kämpfer. Immer wieder wurden Massengräber entdeckt. Etwa 300.000 Vertriebene leben in Flüchtlingscamps unter zum Teil desaströsen Verhältnissen, sagen Beobachter.
Die Liste der Forderungen, die der Bundestag befürwortet, ist lang - 20 Punkte. Einige davon: Jesiden sollen auch weiterhin in Deutschland Schutz und Asyl finden; Rückkehrwilligen die Heimkehr ermöglicht und Familien zusammengeführt werden. Es soll ein Archiv- und Dokumentationszentrum eingerichtet und in Bildung und Forschung investiert werden, damit das Andenken gestärkt wird. Zudem soll sich die Bundesregierung beim Irak für eine Reform des dortigen Strafrechts starkmachen, damit die Verbrechen auch vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag verfolgt werden können und der Irak selbst - ohne Anwendung der Todesstrafe – die Täter zur Verantwortung zieht.
Der Antrag war von den Ampel-Fraktionen von SPD, FDP und Grünen gemeinsam mit der Unionsfraktion eingebracht worden und geht auf eine Petition von Gohdar Alkaidy, dem Vereinsvorsitzenden der Stelle für jesidische Angelegenheiten, aus dem Jahr 2021 zurück. Die Petition fand vor dem Votum des Bundestages bereits im Petitions- und Menschenrechtsausschuss breite Unterstützung.
In Deutschland leben 150.000 Jesiden – nach Angaben der Bundeszentrale für politische Bildung die größte Jesiden-Gruppe außerhalb ihrer Heimat. Auch deshalb komme Deutschland eine besondere Verantwortung zu, um Jesiden wieder eine Perspektive zu geben, sagte etwa der menschenrechtspolitische Sprecher der Union im Bundestag, Michael Brand (CDU).
Die Entscheidung des Bundestages sei auch die Annahme des Auftrags, nach denen zu suchen, die weiterhin vermisst und verschleppt sind, versicherte Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne): „Wir können den Völkermord nicht rückgängig machen, aber wir können dafür sorgen, dass die Opfer Gerechtigkeit erhalten, damit der Völkermord nicht vererbt wird.“
Nach dem einstimmigen Votum des Bundestages gab es stehenden Applaus der Parlamentarier. Eine Geste der Anerkennung des Leids in Richtung einer jesidischen Delegation, die bei der Debatte im Bundestag zu Gast war – an ihrer Spitze das weltliche Oberhaupt der Jesiden, Hazim Tahsin Saied Beg.
In ersten Reaktionen war von einem historischen Tag die Rede. Die Kurdische Gemeinde Deutschland verwies auf die Vorreiterrolle Deutschlands bei der Aufklärung. Der Zentralrat der Jesiden forderte, dass die Sindschar-Region schnell wieder aufgebaut werden müsse. „Ezidinnen und Eziden gehören nicht in Zelte oder Camps, sie gehören in ihre Heimat“, sagte die Zentralratsvorsitzende Zemfira Dlovani.
Für die deutsch-jesidische Journalistin und Menschenrechtsaktivistin Düzen Tekkal ist die Anerkennung des Genozids mehr als nur ein symbolischer Akt. „Es ist eine Heilung. Denn nichts wünschen sich die Überlebenden mehr als Gerechtigkeit, dass die Welt ihr Leid sieht und die Täter bestraft werden“, sagte Tekkal, die sich seit Jahren mit ihrer Organisation „Hawar.help“ für die Menschenrechte der Jesiden einsetzt. Auch für sie geht die Aufarbeitung weiter.
KNA