Die Religionswissenschaftlerin Farida Stickel am 24. September 2022 in Zürich.
Bild: © Privat/KNA
Proteste im Iran

Islam-Expertin Stickel: Iranerinnen wehren sich gegen Mullahs

Zürich ‐ Die Iranerin Mahsa Amini (22) verstößt gegen Kleidervorschriften und wird verhaftet. Drei Tage später stirbt sie im Gefängnis. Seitdem nehmen die Proteste in Iran an Heftigkeit zu.

Erstellt: 27.09.2022
Aktualisiert: 27.09.2022
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„Die Mehrheit der iranischen Frauen erfahren den Schleier als Unterdrückung“, sagt Farida Stickel (42), Geschäftsführerin des Religionswissenschaftlichen Seminars der Universität Zürich, im Interview

Frage: Frau Stickel, warum müssen Iranerinnen ihr Haar verhüllen?

Stickel: Laut Gesetz müssen sie ihre Körperformen und ihre Reize verhüllen, um angeblich geschützt zu werden. Dazu gehört neben dem Bedecken der Haare auch das Tragen langer Oberteile, die mindestens bis zur Mitte der Oberschenkel reichen müssen.

Frage: Wer soll vor wem geschützt werden?

Stickel: Es kommt darauf an, wen man fragt. Manche Frauen, aus traditionellen oder religiösen Familien, haben die Schleierpflicht so weit verinnerlicht, dass sie sagen, der Schleier schütze die Frauen vor Belästigungen. Andere sagen, der Schleier schütze den Mann vor den Reizen der Frau. Dieses Männerbild wiederum wird kritisiert. Die Mehrheit der iranischen Frauen erfahren den Schleier als Unterdrückung und Einschränkung ihrer Freiheit. Denn sie können ihre Kleider nicht selbst wählen und müssen einen Schleier tragen, hinter dem sie religiös gar nicht stehen.

Frage: Die Bedeutung und Wahrnehmung des Schleiers variiert also?

Stickel: Es kommt zudem auf die Zeit an. Zu Beginn der 1980er Jahre, während des Iran-Irak-Krieges, sind viele Männer gefallen. Die Frauen mussten viele Aufgaben der Männer übernehmen und waren im öffentlichen Leben präsent. Der Schleier ermöglichte ihnen den Auftritt im öffentlichen Leben und beförderte in einer Weise ihre Autonomie und Emanzipation. Der Schleier war wie die schützenden Wände des Hauses, in dem sich die Frau sonst aufzuhalten hatte.

Frage: Und wie ist es heute?

Stickel: Heute ist es ganz anders. Die Frauen haben den öffentlichen Raum erobert, bewegen sich selbstverständlich darin. Sehr viele Frauen sind gut gebildet. Die Mehrheit der Studierenden an den iranischen Universitäten sind Frauen; es gibt mehr Absolventinnen als Absolventen. Die Frauen sind emanzipiert. Der Schleier wird als Einschränkung und Freiheitsbeschneidung wahrgenommen.

Frage: Halten sich denn alle Frauen an die Verschleierungspflicht?

Stickel: Es gibt Phasen, in denen die Frauen die Kleidervorschriften lockerer nehmen; da werden etwa kürzere Oberteile getragen. Dann folgen wieder rigidere Phasen. In den großen Städten wie Teheran lassen die Frauen den Schleier eher mal runterrutschen und beeilen sich nicht, ihn wieder zu richten. Die Iranerinnen wissen sehr gut, wie sie sich wo verhalten müssen.

Frage: Im öffentlichen Raum im Iran sieht man also keine Frau ohne Schleier?

Stickel: Nein, keine Frau geht ohne Schleier aus dem Haus. Allerdings gibt es immer wieder Protestaktionen von Frauen, die ohne Schleier über die Straße laufen, wie man in den Sozialen Medien sehen kann.

Frage: Im Fall von Mahsa Amini hat die Sittenpolizei brutal durchgegriffen. Die junge Frau ist vermutlich an den Folgen der Polizeigewalt gestorben.

Stickel: Es kommt immer wieder vor, dass die Sittenpolizei in aller Härte durchgreift. Da reichen lackierte Nägel, ein sichtbarer Knöchel, zu kurze Ärmel. Für die Iranerinnen sind diese Willkür und Unsicherheit schwierig. Was heute toleriert wird, kann morgen ein Verstoß sein. Dass Frauen von der Sittenpolizei unter Gewaltanwendung mitgenommen werden, ist nicht außergewöhnlich.

Frage: Wie erklären Sie sich die landesweiten Proteste nach dem Tod von Mahsa Amini?

Stickel: Der Unmut in der Bevölkerung ist riesig. Es hat sich große Unzufriedenheit angestaut. Es herrscht große Perspektivlosigkeit im Iran. Die Inflation ist hoch, die Arbeitslosigkeit groß; die persönlichen Freiheiten werden eingeschränkt, Korruption ist an der Tagesordnung. Das ist ein explosiver Mix. Der Tod von Mahsa Amini war der Funke, der zur Explosion führte.

Frage: Hat diese Explosion Parallelen zum Beginn des „Arabischen Frühlings“?

Stickel: Ja. Ähnlich ist auch, dass jetzt wieder ins Bewusstsein rückt, wie lange die Menschen schon unzufrieden sind, wie lange der Unmut schon schwelt. Ein Zündfunke genügt dann, um die Menschen auf die Straße zu bringen.

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Frage: Wie unterscheiden sich die Proteste von denen von 2019, nach der Benzinpreiserhöhung?

Stickel: Bei den gegenwärtigen Protesten sind die Frauen die treibenden Kräfte. Die Proteste finden auch in Gegenden statt, die als regimetreu gelten. Neu ist auch die Zunahme von Aktionen in den Sozialen Medien, in denen sich die Frauen filmen, wie sie gegen Sicherheitskräfte protestieren und ihren Schleier wegwerfen. Wir sehen, wie sie ihren Schleier verbrennen oder sich ihre Haare abschneiden.

Frage: Im Iran müssen sich Frauen verhüllen; in der Schweiz soll bald ein Verhüllungsverbot gelten. Sehen Sie Parallelen?

Stickel: Es handelt sich in beiden Fällen um Stellvertreterdebatten. Über die Kleidervorschrift versucht man für Frauen zu bestimmen, wie sie zu leben haben. Es wird ihnen abgesprochen, dass sie selbst wählen können, wie sie sich kleiden und leben wollen.

Von Eva Meienberg (KNA)