Investiert in die Menschen!
Vier Jahre nach dem verheerenden Erdbeben in Haiti geht der Wiederaufbau in dem Karibikstaat nur schleppend voran – trotz Milliardenhilfen aus dem Ausland. Im Interview spricht Pater Sylvain Ducange, Provinzial der Salesianer Don Boscos in Haiti, über die internationale Hilfsmaschinerie und die Zukunft der Jugend in dem karibischen Inselstaat.
Aktualisiert: 15.11.2022
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Vier Jahre nach dem verheerenden Erdbeben in Haiti geht der Wiederaufbau in dem Karibikstaat nur schleppend voran – trotz Milliardenhilfen aus dem Ausland. Im Interview spricht Pater Sylvain Ducange, Provinzial der Salesianer Don Boscos in Haiti, über die internationale Hilfsmaschinerie und die Zukunft der Jugend in dem karibischen Inselstaat.
Frage: Nach dem verheerenden Erdbeben im Januar 2010 wurde Haiti geradezu überrollt von ausländischer Hilfe. Wie wirksam sind die Wiederaufbaumaßnahmen?
Ducange: Direkt nach dem Erdbeben kam eine Vielzahl an internationalen Hilfsorganisationen ins Land, die sich mit großem Einsatz engagierten. Sie kümmerten sich schnell und effektiv um die Versorgung der Opfer mit Wasser, Nahrung, Medikamenten und einer Unterkunft. Es war eine enorme globale Solidarität zu spüren.
Weniger positiv lief der langfristige Wiederaufbau an. Die Abstimmung der internationalen Organisationen untereinander und mit dem haitianischen Staat funktionierte nicht gut. Es gab beispielsweise Probleme bei der Verteilung und Koordinierung von Wiederaufbauprojekten. Obwohl es noch immer viel zu tun gibt, sind viele internationale Nothelfer inzwischen wieder abgereist.
Frage: Sie sagen, es ist noch mehr Hilfe notwendig? Wo konkret?
Ducange: Wir Salesianer arbeiten unter anderem mit Kindern und Jugendlichen in Cité Soleil zusammen, einem extrem armen Viertel in der haitianischen Hauptstadt Port-au-Prince. Möglicherweise ist es sogar eine der ärmsten Gegenden der Welt. Dort gibt es sehr viele Jugendliche, Kinder und Erwachsene, die seit dem Erdbeben obdachlos sind und in größter Armut leben. Der Hilfsbedarf ist enorm. Die Salesianer versuchen, dieser Not entgegenzuwirken, und bieten beispielsweise Resozialisierungsprogramme für Jugendliche an, die auf der Straße leben. Darüber hinaus gibt es Angebote zur Schul- und Berufsbildung.
Leider ist es schwierig, für solch langfristige Projekte Unterstützung von internationalen Hilfsorganisationen zu bekommen. Viele kümmern sich lieber um die akuten Bedürfnisse der Menschen, zum Beispiel, indem sie Essen austeilen oder Häuser bauen.
Es ist wichtig, dass man nicht nur in Gebäude und Mauern investiert, sondern in die Menschen – und zwar auf einer mittelfristigen Basis, nicht nur, wenn die Not am größten ist.
Frage: Vielfach wird kritisiert, dass durch die internationale Hilfsmaschinerie lokale Organisationen und der haitianische Staat von der Entwicklung des eigenen Landes ausgeschlossen wurden. Wie sehen Sie das?
Ducange: Aus der Perspektive der gesamten Nation kann man sagen: Ja. Als der große Fluss an internationaler Hilfe nach Haiti kam, hat man sich schon ein bisschen an die Seite geschubst gefühlt. Es war zu beobachten, dass viele verschiedene Organisationen mit ihren kleinen Projekten kamen und nebeneinander an denselben Dingen arbeiteten, ohne voneinander zu wissen. Mittlerweile hat sich das geändert. Der Staat ist wieder deutlich stärker geworden. Es gibt nun einen nationalen Wiederaufbauplan, so dass die Dinge in den letzten zwei Jahren langsam ins Rollen gekommen sind.
„Es ist wichtig, dass man nicht nur in Gebäude und Mauern investiert, sondern in die Menschen – und zwar auf einer mittelfristigen Basis, nicht nur, wenn die Not am größten ist.“
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Frage: Die Salesianer Don Boscos bieten in Haiti hauptsächlich Schul- und Berufsbildung für Kinder und Jugendliche an. Wie hat sich die Situation der Jugend vor und nach dem Beben verändert?
Ducange: Das Entwicklungsniveau des Landes war vor dem Erdbeben schon sehr niedrig. Durch die Naturkatastrophe ist Haitis Gesellschaft jedoch in ein tiefes Loch gefallen. Trotzdem haben die Haitianer ihre positive Einstellung nicht verloren. Sie glauben immer an die Zukunft. Diese Zuversicht hat sie über die schwierige Zeit des Erdbebens hinweggetragen und ist jetzt umso deutlicher zu spüren.
Was die Jugendlichen betrifft: Sie sind die Hoffnung des Landes und auch die Zukunft der Kirche. Die jungen Menschen in Haiti haben den großen Wunsch, in sich selbst zu investieren. Mit diesem Wunsch gehen sie gerade auf die Straße und demonstrieren für mehr Schulen, mehr Bildungsprogramme, mehr Arbeitsplätze, mehr freie Wirtschaft und für mehr Unternehmen. Wenn von internationaler Seite in Haiti investiert wird, ist es ganz wichtig, diese Forderungen ernst zu nehmen.
Frage: Viele gut ausgebildete haitianische Jugendliche wandern allerdings aus, um ihre Wünsche im Ausland zu verwirklichen …
Ducange: Das ist ein großes Problem. Viele Jugendliche verlassen auch schon für die Ausbildung das Land und kommen nicht wieder. Staatlicherseits gibt es derzeit kein System, wie man diese Jugendlichen wieder zurückholen könnte.
Frage: Wie kann man die Auswanderung verhindern?
Ducange: Es müssen Möglichkeiten dafür geschaffen werden, dass die Jugendlichen ihre Lebensziele innerhalb von Haiti erreichen können. Konkret heißt das, wir brauchen Arbeit, Bildung und Sicherheit im Land. Sind diese drei Ziele erreicht, wird die Jugend von selbst bleiben.
Das Interview führte Lena Kretschmann.