
„Die gute Nachricht: Haiti lebt weiter in Hoffnung“
Haiti ‐ Chibly Langlois aus Haiti ist einer der ersten von Papst Franziskus ernannten Kardinäle. Der Bischof von Les Cayes hat einen besonderen Blick auf die aktuellen Entwicklungen auf dem amerikanischen Kontinent. Auch auf die Probleme im eigenen Land sieht der Kardinal mit Hoffnung - Fatalismus sei für seine Landsleute ein Fremdwort.
Aktualisiert: 15.11.2022
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Chibly Langlois (58) von der armen Karibikinsel Haiti ist einer der ersten von Papst Franziskus ernannten Kardinäle. Der Bischof von Les Cayes hat einen besonderen Blick auf die aktuellen Entwicklungen in den USA und auf dem amerikanischen Kontinent. Im Interview spricht er als ein katholischer Hoffnungsträger anderer Art.
Frage: Eminenz, welche aktuellen Nachrichten bringen Sie aus Haiti mit?
Langlois: Die gute Nachricht ist, dass Haiti weiter in Hoffnung lebt. Man hört viele schlechte Nachrichten von uns, was die soziale und wirtschaftliche Lage angeht oder auch die politische. Aber das Volk lebt und ist voller Hoffnung. Unser Volk arbeitet Tag für Tag, um die Situation ein bisschen zu verbessern.
Frage: Sie sagen oft: „Das Volk von Haiti lebt in der Hoffnung: Morgen wird es besser“. Morgen – ist das unter Ihrem neuen Staatspräsidenten Jovenel Moise?
Langlois: Sicher – mit dem neuen Präsidenten erwartet das Volk auf allen Ebenen Verbesserungen für die Entwicklung des Landes. Aber es ist nicht nur eine Person, die Hoffnung macht. Es ist in unserer Kultur angelegt, dass wir in Hoffnung leben. Wir leben schon so lange unter sehr schwierigen Umständen: Da gab es das große Erdbeben, Zyklone, all das. Aber wir fangen immer wieder mit dem Aufbau an und leben weiter. Der neue Präsident Moise hat im Wahlkampf versprochen, dass es für alle Menschen Nahrung geben wird. Dass er die Teller mit Essen und die Taschen mit Geld füllt. Das heißt, dass er für Arbeitsplätze sorgen muss und zur Entwicklung des Landes beiträgt. Und das ist jetzt eben die Erwartung.
Frage: Die Kirche scheint auf Haiti die einzige Institution zu sein, die über die Jahre funktioniert. Täuscht der Eindruck?
Langlois: Man kann nicht sagen, dass sie die einzige Instanz ist – aber sie ist vielleicht die Institution, die in Haiti am meisten anerkannt ist. Die Kirche ist ein Bezugspunkt; sie steht immer an der Seite des Volkes – und ja, sie funktioniert. Unsere Schulen, unsere Gesundheits- und Sozialdienste, die Sprechstunden, die wir nach den Gottesdiensten anbieten.
Frage: Welche Rolle spielt die traditionelle Religion des Vodoo?
Langlois: Die Praxis des Vodoo ist in Haiti Tradition. Unter der früheren Regierung ist er auch in der Verfassung festgelegt und institutionalisiert worden, was bedeutet, dass die Anhänger viel freier sind bei der Ausübung des Vodoo. Sicherlich haben sich Verständnis und Wahrnehmung des Vodoo über die Zeit geändert, es ist nicht mehr das gleiche wie früher. Aber der Vodoo ist Teil der Realität und der religiösen Welt Haitis und wir können ihn nicht leugnen.
Es gibt auch eine kulturelle Dimension dieser Praxis. Denn schon ab der Geburtsstunde der haitianischen Nation hat der Vodoo existiert und hat auch zu den Befreiungskämpfen des Landes beigetragen. Der Vodoo ist also von der Entstehungsgeschichte Haitis nicht wegzudenken. Sicherlich gibt es Elemente des Vodoo, die genauer betrachtet werden müssen. Die katholische Kirche hat bereits einige Aspekte des Vodoo anerkannt, wie etwa die Musik. Andere Dinge müssen wiederum korrigiert werden, das ist klar. Aber Vodoo ist eben Teil der Mentalität und Kultur Haitis.
Frage: Führt diese Mentalität zu einem gewissen Fatalismus bei der Bevölkerung?
Langlois: Ich glaube nicht, dass man sagen kann, dass der Vodoo zu mehr Fatalismus führt. Im Prinzip gibt es im Vodoo viele Elemente, die Hoffnung geben und die auch den Glauben an etwas Höheres stärken – somit schließt er auch an den christlichen Glauben an. Es gibt im Vodoo den Glauben an den einen Gott, der auch von Christus verkündet wurde. Man kann nicht von Fatalismus sprechen, im Gegenteil, wenn man sich mit Vodoo auseinandersetzt, stellt man fest, dass er voller Antrieb und Lebendigkeit ist. Man glaubt dort auch an ein Leben nach dem Tod. Es gibt einen Auferstehungsglauben, die Rede ist von Zombies, von Toten, die weiterleben. Man glaubt daran, dass man nie vollständig verschwindet und dass es nach dem Tod irgendwie weitergeht. Die Anhänger des Vodoo ziehen sogar aus dem Tod noch Leben! (lacht)

„Fatalismus gibt es in der haitianischen Mentalität nicht, im Gegenteil, es gibt viel Hoffnung und Lebendigkeit.“
Frage: Eine vielleicht unangenehme Frage – denn sie passt nicht so recht ins Bild vom Umgang von Christen untereinander: Es gibt zwischen Ihren Inselnachbarn in der Dominikanischen Republik und Ihnen nicht nur ein Wohlstandsgefälle, sondern auch eine Form von Herablassung, ja Rassismus.
Langlois: Nun, wir leben auf derselben Insel. Wir sind dazu verdammt, als Nachbarn zu leben. Darüber hinaus sind wir alle Menschen – seien wir Haitianer oder Dominikaner. Als Menschen sind wir alle Brüder und Schwestern, weil wir alle die gleiche Wurzel haben: jene Wurzel, die Männer und Frauen geschaffen hat. Auf dieser Basis müssten wir uns eigentlich verstehen und akzeptieren. Durch dieses und jenes sind wir aber auch zu Menschen geworden, die sich eben nicht gegenseitig akzeptieren.
Die Geschichte, die Kolonialherren, haben uns Grenzen auf diese Insel gebracht. Es gibt Bewohner der Dominikanischen Republik, die das Vorhandensein zweier Nationen auf der gleichen Insel nicht begreifen. Das verursacht Ängste, bis hin zu tödlichen Konflikten. Wir als Bischofskonferenzen machen Fortschritte, tauschen uns aus. Ja, wir haben Schwierigkeiten, die man nicht leugnen kann. Trotzdem müssen wir für Einigkeit und Frieden unserer beiden Nationen arbeiten.
Frage: Wie schätzen Sie die Solidarität in Lateinamerika und der Karibik im Umgang mit dem neuen Kurs der US-Regierung Trump ein? Befürchten Sie nun auch eine stärkere gegenseitige Abgrenzung angesichts des Migrationsdrucks – ärmer gegen reicher?
Langlois: Sicher wird die Entscheidung der neuen US-Regierung Auswirkungen auf die Migrationsströme auf dem ganzen Kontinent haben. Zuerst betrifft das jene, die zurzeit illegal in den USA leben – und jene, die gerade jetzt dorthin wollen. Die übrigen Konsequenzen kennen wir noch nicht. Die Regierung Haitis wird sich für jene Landsleute einsetzen müssen, die in den USA Arbeit suchen – und dort womöglich auf ungerechte Strukturen treffen werden.
Frage: Papst Franziskus hat Sie 2014, in seinem allerersten Konsistorium, zum Kardinal gemacht. So Gott will, werden Sie nun bis 2038 das Recht haben, die künftigen Päpste zu wählen. Sind Sie zufrieden mit dem derzeitigen Kurs der katholischen Kirche?
Langlois: Nun ja, 2038... Man sollte vielleicht keine zeitlichen Grenzen nennen für das, was Gott mit seiner Kirche vorhat. Und wir reden hier nicht ja von Politik, sondern von Seelsorge. Wir brauchen eine Kirche, die aus ihren Gebäuden hinausgeht, um den Menschen zu begegnen; um sie zu uns zu holen. Das ist eine ganz wichtige Botschaft – auch für Europa. Leere Kirchen laden dazu ein, auch selbst wegzugehen. Wir müssen dorthin, wo die Menschen sind.
Bei uns, in Lateinamerika und in der Karibik, wandern auch viele Menschen zu Sekten ab. Wir müssen diese Botschaft annehmen, unsere Kirche wieder zu einer Missionskirche machen. Papst Franziskus sagt, es müsse für jeden Getauften eine Pflicht sein, Missionar zu werden und an die Ränder zu gehen. Natürlich, dieser Papst sorgt für Unruhe in der Verwaltung der Kirche; das bringt auch Unstimmigkeiten. Aber es gibt auch so viele Menschen, auch Nichtkatholiken, die die Botschaften von Papst Franziskus sehr gut aufnehmen.
Von Claudia Zeisel und Alexander Brüggemann (KNA)
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