Mit Bildung und Seelsorge zu neuem Selbstbewusstsein
Ungarn ‐ In der Gemeinde Köröm im Osten Ungarns bietet Pater Lourdu Chavvakula Roma-Familien einen Zufluchtsort und Möglichkeiten, der Not und Arbeitslosigkeit zu entkommen. Eine Reportage.
Aktualisiert: 18.04.2023
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In der Gemeinde Köröm im Osten Ungarns bietet Pater Lourdu Chavvakula Roma-Familien einen Zufluchtsort und Möglichkeiten, der Not und Arbeitslosigkeit zu entkommen. Eine Reportage.
In gelb und grün erstrecken sich die Felder zu unseren Seiten. Nur das Rauschen der Autobahn umgibt uns. Es ist Juni. 185 Kilometer haben wir nun vor uns. Die Großstadt Budapest, die vielen Menschen und den Lärm lassen wir hinter uns. Zwei Stunden lang geht es Richtung Osten in die Nähe der ukrainischen Grenze. Plötzlich halten wir abrupt: „Jetzt müssen wir kurz warten.“ Unser Fahrer, Pater Frantisek Juhos, dreht sich zu uns um: „Die Fähre kommt sofort.“ Tatsächlich. Die Straße vor uns führt ins Wasser. Ein schmaler Fluss hindert uns an der Weiterfahrt. Doch schon nach kurzer Zeit legt eine kleine Fähre an unserer Seite an. Gerade genug Platz für ein Auto und innerhalb einer Minute haben wir das Wasser überquert: „Jetzt sind wir in Köröm“, sagt P. Juhos und legt den ersten Gang ein.
Nach nur noch wenigen Minuten biegen wir in die Einfahrt des alten gelben Pfarrhauses der Gemeinde Köröm. 300 Jahre steht es bereits hier. Und bis heute hat es einen unverzichtbaren Wert: Es ist eine von den Steyler Missionaren geführte Anlaufstelle für rund 1.200 Roma, die hier in Köröm leben. „Wir möchten diese Menschen auffangen, da die Gesellschaft sie ausgrenzt“, erzählt uns Pater Lourdu Chavvakula wenig später. Er leitet das Steyler Sozialprojekt für die Roma-Familien vor Ort.
Seit Jahrhunderten leben Roma in Europa. In ihren jeweiligen Heimatländern bilden sie historisch gewachsene Minderheiten, die sich selbst Sinti oder Roma nennen. „Sinti“ bezeichnet die in West- und Mitteleuropa beheimateten Angehörigen der Minderheit, „Roma“ diejenigen ost- und südosteuropäischer Herkunft.
Nach den Aussagen von P. Lourdu haben es die schätzungsweise eine Million Roma in Ungarn nicht leicht. Vorurteile ihnen gegenüber seien eines ihrer größten Probleme: „Das erleben wir auch hier in Köröm. 80 Prozent der Einwohner sind Roma und die restlichen 20 Prozent Ungarn meiden sie, da sie sie zum Beispiel für Diebe und arbeitsscheu halten“, erklärt P. Lourdu. Immer wieder zögen Ungarn aus diesen Gründen sogar weg aus Köröm. Zusammen mit P. Frantisek Juhos bietet P. Lourdu den Roma-Familien in Köröm einen Zufluchtsort. Einen Ort, an dem sie akzeptiert werden.
An diesem Nachmittag kommen viele Roma-Familien wieder zum Pfarrhaus, denn es gibt ein „Kinderprogramm“ auf der großen Wiese davor. Ehrenamtliche und wenige staatlich finanzierte Helfer bieten Spiele und Unterhaltung an: von Wettessen, über Reise nach Jerusalem bis Basteln ist alles dabei. „Die Roma bekommen schon sehr früh viele Kinder. Fünf in einer Familie sind meist normal“, sagt P. Lourdu. „Das Problem ist, dass sie damit auch schon sehr früh anfangen. Mit 12,13 Jahren gehen sie ihre Beziehungen ein. Und mit dem ersten Kind ist dann ihre Zukunft fixiert“, bedauert er. Durch das Sozialprojekt will er ihnen eine Perspektive ermöglichen: „Sie wissen um die Vorurteile ihnen gegenüber, finden keinen Job, weil sie niemand einstellt. Dadurch fühlen sie sich minderwertig und fallen oft in Alkohol- und Drogenmissbrauch“, fasst er zusammen. „Und aus diesem Teufelskreis wollen wir sie herausholen.“
Deshalb organisieren die Steyler Missionare verschiedene Bildungsveranstaltungen, zu denen sie abwechselnd Ärzte, Ingenieure und Vertreter anderer Berufsgruppen einladen. Diese erzählen dann von ihrer Arbeit und zeigen den Roma damit auf, was es für Möglichkeiten für sie gibt. Besonders wichtig ist für P. Lourdu die Hilfe zur Selbsthilfe: „Es bringt nichts, wenn wir ihnen Geld geben. Denn davon kaufen sie sich irgendwann nur Alkohol und Zigaretten. Das macht sie erstens abhängig und zweitens faul, sich um eine Arbeitsstelle zu kümmern.“
Neben der Bildung geht es vor allem auch um die Seelsorge. Mit dem ersten Kind ziehen die sehr jungen Roma zwar zusammen, gründen eine Familie und bleiben meist auch zusammen. Doch eine Ehe gibt es nicht. In katechetischen Einheiten legen die Steyler Missionare ihnen die Bedeutung einer christlichen Ehe dar und versuchen die Menschen auch im Alltag in das Leben der Kirche zu integrieren. „Denn über die Kirche können wir Begegnung schaffen“, ist P. Lourdu überzeugt. „Und zwar zwischen Ungarn und Roma. Wenn sie zusammen in die Heilige Messe kommen, können wir Brücken bauen und Schritt für Schritt Vorurteile abbauen. Und wir sind auf einem guten Weg.“ Denn langsam kommen mehr Roma-Familien regelmäßig in die Kirche laut P. Lourdu.
Wichtig ist für die Steyler Missionare, dass all diese Anliegen des Sozialprogramms (Integration, Abbau von Vorurteilen, Ermöglichung einer Zukunft, Seelsorge) schon bei den Kleinsten beginnen. Damit die Kinder gar nicht erst hineingeraten in den Teufelskreis, werden sie schon früh begleitet. Neben Kindergärten, in denen gebetet, gebastelt und gespielt wird, hat vor allem die Musik eine tragende Rolle. Denn Roma sind sehr musikalisch veranlagt, was wir am heutigen Abend mit eigenen Augen und Ohren erleben dürfen bei einer Aufführung der Musicalgruppe. Rund 30 Kinder bekommen fast jedes Wochenende Musicalunterricht von Gesangs- und Tanzlehrern eines Roma-Theaters. Gespannt lauschen wir ihren Liedern in ungarischer Sprache.
Ihre eigene Sprache haben sie so gut wie verloren, erfahren wir von P. Lourdu. „Das ist natürlich neben ihrer Nicht-Akzeptanz beim ungarischen Volk mit ein Grund für ihren Identitätsverlust“, erklärt er. „Mit der Förderung ihrer Musikalität wollen wir das ändern. Denn Musik nimmt einen wichtigen Platz ein in ihrer Kultur“, so der Steyler Missionar. „Mit Texten rund um die Geschichte der Roma können sie ihre Kultur sichern, ihre Identität wiederaufleben lassen, und ihre Kinder können damit dann aufwachsen. So stärken sie ihr Selbstwertgefühl, was die Grundlage für eine bessere Zukunft für sie bildet.“
Und dann werden wir eingeladen, auf der Wiese mit den Roma zu tanzen, was wir sehr gerne tun. „Wenn wir mit ihnen tanzen, fühlen sie sich akzeptiert“, weiß P. Lourdu. „Und das ist der erste Schritt in eine bessere Zukunft. Dafür kann ich viele Anreize geben, Möglichkeiten anbieten, aber die Veränderung muss von ihnen selbst kommen, das darf ich nicht erzwingen. Es ist wie mit einem Samen: Wenn man ihn geduldig pflegt, wächst etwas Großes aus ihm. Das ist Mission“, sagt er und tanzt in den Kreis der jubelnden Roma-Familien.
Von Melanie Pies (Steyler Missionare)
© Steyler Missionare