Kolumbien: Tore zum Glück
Bild: © Don Bosco

Kolumbien: Tore zum Glück

Ordensgemeinschaften ‐ In Kolumbien sind Drogen und Kriminalität weit verbreitet. Viele Jugendliche sind arbeitslos und ohne Zukunftsperspektiven. Der 17-jährige Andres Felipe* aus der zweitgrößten Metropole Medellín hat es geschafft, diesem Kreislauf zu entfliehen.

Erstellt: 14.06.2018
Aktualisiert: 12.06.2018
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In Kolumbien sind Drogen und Kriminalität weit verbreitet. Viele Jugendliche sind arbeitslos und ohne Zukunftsperspektiven. Der 17-jährige Andres Felipe* aus der zweitgrößten Metropole Medellín hat es geschafft, diesem Kreislauf zu entfliehen. Geholfen dabei hat ihm seine Fußballbegeisterung und das Sportprojekt „Dad Bosco“.

Wenn früh morgens die Sonne über Kolumbiens zweitgrößter Stadt Medellín aufgeht, beginnt das alltägliche Chaos auf den Straßen mit lautem Hupen, rußigen Abgasen und zigtausenden Rollern und Mopeds. Gleichzeitig füllen sich die Gehwege mit wuselnden Massen, einschließlich vieler Leute in knallgelben Trikots. Selbst wenn man sich nicht für Fußball interessiert, weiß man so direkt, wenn die kolumbianische Nationalmannschaft spielt. Ganz egal ob Freundschaftsspiel oder WM-Partie – die Leute lieben ihr Nationalteam und so steht das Land immer größtenteils still, wenn die Cafeteros (so der Spitzname der Mannschaft) den Rasen betreten und das Match beginnt.

Ich bin auf dem Weg nach Robledo Aures, einem der vielen Slums, die in den letzten Jahren an den Hängen der Stadt gewachsen sind. Slums wie dieser entstanden durch die Landflucht infolge des jahrzehntelangen Bürgerkriegs bzw. durch Menschen, die versuchen, in der großen Stadt ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Egal, warum sie letztlich nach Medellín gehen, die meisten von ihnen enden in einem der Slums rund um die Stadt. Diese schwierigen Gegenden sind nicht nur Heimat von Konfliktopfern und hart arbeitenden Leuten, sondern auch Brutstätte der Gewalt und der Gang-Kultur, die in der Zeit von Drogenbaron Pablo Escobar und dem Medellín-Kartell ihren Ursprung haben. Mit dem Versprechen von Macht und Geld rekrutierte Escobar so aus den Reihen der ausgegrenzten, ziellosen Jugendlichen buchstäblich eine eigene Armee. In Robledo Aures treffe ich einen jungen Mann, der mithilfe des Sports, den er so liebt, eine völlig andere Zukunft anstrebt.

Bild: © Don Bosco

Andres Felipe ist Siebzehn und irgendwie schon zu groß für sein Alter. Er lebt hier zusammen mit seiner Mutter, seinem Schwiegervater und einer jüngeren Schwester nur ein paar Minuten entfernt von der Ciudad Don Bosco, wo er sich unter der Woche überwiegend aufhält. Ciudad Don Bosco ist ein Komplex, der hunderten von Kindern Unterkunft bietet und Kindern aus Familien mit niedrigen Einkommen oder einem schwierigen Umfeld Bildungsangebote bereitstellt.

Gerade versucht Andres, in der Schule den Computerkurs und die Sportstunden unter einen Hut zu bringen. Er ist ein schüchterner Junge, der still auf seinem Platz sitzt und zum Unterricht beiträgt – ganz im Gegensatz zu vielen anderen Jungs, die herumtoben, laute Musik hören und im Unterricht schlafen. Andres erzählt: „Die Ciudad Don Bosco bedeutet mir sehr viel … sie bieten uns dort Möglichkeiten, die wir wahrscheinlich nirgendwo sonst bekämen. Wir können dort nicht nur lernen, sondern auch Sport treiben. Also mache ich natürlich so viel wie möglich in meiner Zeit hier.“ 

Wie viele andere Jungs in Kolumbien ist Andres fußballverrückt. Man sieht ihre Augen leuchten, wenn es zur Pause klingelt und Andres und seine Freunde anfangen, Fußball zu spielen. Dann wird aus dem schüchternen Jungen ein Anführer, der Gegner grätscht und seine Mannschaftskameraden kommandiert, wie ein Offizier auf dem Schlachtfeld. Laut Carlos Mario Florez, dem Programmleiter in Ciudad Don Bosco, „bedarf es bei keinem anderen Spiel so viel Führungskraft, Teamwork, Strategie und Taktik; alles Dinge, die einem auch im Leben weiterhelfen.“

Bild: © Don Bosco

Aus diesem Grund hat Florez das Programm „Dad Bosco“ ins Leben gerufen, ein Fußballprojekt der Ciudad Don Bosco, das junge Menschen vor den Gefahren des Lebens in den Slums schützen soll. Durch den Mangel an Führung und Vorbildern sind sie dort häufig Gewalt, Prostitution, organisiertem Verbrechen, Drogenhandel und -missbrauch sowie der Gefahr von Schwangerschaften im Teenageralter ausgesetzt. Laut einer Studie der kolumbianischen Polizei sind Gewalt und Drogenkonsum die Haupttodesursachen in der Altersgruppe der 15- bis 19-Jährigen. Florez ist überzeugt, dass das Fußballspielen sie nicht nur beschäftigt, sondern dass es auch die Lebenswirklichkeiten der Jungs beeinflussen und verändern kann, die in Don Bosco unterrichtet werden. Und dass das Gleiche auch für die Slums gilt, die den Komplex umgeben.

Am nächsten Morgen steht Andres auf dem Dach seines Hauses, mit Blick auf ganz Medellín, und balanciert einen Ball auf seinem Kopf. Man kann die unsichtbare Barriere beinahe spüren, die sein Leben im Slum von der Realität in der Stadt mit all ihren Möglichkeiten und hohen Häusern trennt. Dann fängt er an, zu erzählen: „Fußball bedeutet mir alles! Am liebsten möchte ich immer nur Fußball spielen. Es ist quasi meine Medizin! Wenn ich gestresst bin, Probleme habe oder krank bin, spiele ich Fußball und es geht mir wieder gut.“ Dann zeigt er auf eine Stelle weit hinten in der Stadt und sagt: „Eines Tages will ich da spielen.“ Gemeint ist das Atanasio Girardot Stadion, das Zuhause von Atletico Nacional, der stärksten kolumbianischen Vereinsmannschaft. Wie so viele Teenager in Kolumbien möchte Andres eines Tages Fußballprofi werden.

Endlich Wochenende! Aber das heißt nicht, dass Andres jetzt alle Zeit der Welt hat, an seinem Traum zu arbeiten. Stattdessen hilft Andres an den Wochenenden seiner Mutter im Haushalt. Er macht sein Bett, kehrt und wischt den Fußboden, legt die frische Wäsche zusammen und hilft manchmal sogar seiner Mutter bei ihren Näharbeiten, mit denen sie die Haushaltskasse aufbessert. Und wenn er nicht gerade seiner Mutter hilft, geht er seinem Stiefvater beim Bau ihres künftigen Hauses zur Hand. Sie besitzen eine kleine Parzelle in der Nachbarschaft und errichten dort in Eigenregie ihr eigenes Haus.

Auf der Baustelle schleppt Andres Sandsäcke, während direkt neben ihm gleichaltrige Jungs abhängen und Drogen konsumieren. Diese beiden Lebensentwürfe direkt aufeinandertreffen zu sehen, ist ein erheblicher Kontrast. Auf der einen Seite der hart arbeitende Junge mit dem Wunsch, seinen Lebensunterhalt einmal durch den Sport bestreiten zu können und das harte Leben hier hinter sich zu lassen. Und auf der anderen Seite Teenager, die sich für ein Leben mit Drogen und Kriminalität entschieden haben.

Laut einer Regierungsstatistik sind 52 Prozent der Arbeitslosen in Kolumbien junge Leute zwischen 18 und 26 Jahren.  Sie haben keinerlei Möglichkeiten und die Mischung aus viel freier Zeit und dem Mangel an Zielen macht sie anfällig für Drogenmissbrauch oder das Leben als Mitglied einer Gang. Bei einem derartigen Umfeld ist es kein Wunder, dass Juans Eltern versuchen, ihn so viel wie möglich zu beschäftigen.

Andres muss aber nicht an allen seinen freien Tagen arbeiten. Er hat immer noch Zeit für die normalen Dinge, die Teenager so machen, wie zum Beispiel mit seiner Freundin abhängen, Verwandte besuchen und natürlich fürs Kicken mit seinen Kumpels.

Wir laufen zusammen auf einer kleinen Straße in Richtung eines der betonierten Bolzplätze in seiner Nachbarschaft, als uns eine gefährlich aussehende Gruppe auffällt, die an der Straßenecke herumlungert. Andres wirft mir einen vielsagenden Blick zu und wir laufen schnell weiter und versuchen, ihnen aus dem Weg zu gehen. Danach frage ich ihn nach der Szene auf der Baustelle und ob er jemals Drogen genommen hat. „Ich habe noch nie Drogen genommen, weil ich darin keinen Sinn sehe. Man versucht dadurch ja nur, die Realität auszublenden. Ich habe Gott sei Dank noch nie welche genommen und möchte auch nicht damit anfangen. Am Anfang, als ich meine Freunde kennenlernte und einige von ihnen auch Drogen nahmen, haben sie mich eingeladen, mitzumachen. Sogar Jungs, die mich gar nicht richtig kannten. Aber ich habe immer nein gesagt und dass ich das nicht machen wollte. Auch schaden Drogen ja dem Körper, was wiederum fürs Fußball spielen schlecht ist. Der Sport hat mir also quasi geholfen, mich von Drogen fernzuhalten,“ erzählt er.

Am Bolzplatz angekommen, schließt sich Andres sofort seinen Freunden an, die bereits spielen. Wieder einmal leuchten seine Augen und wird er zum Kommandanten, der das Sagen auf dem Feld übernimmt und seine Kameraden durch ein weiteres Spiel leitet. Hier ist Andres wieder in seiner natürlichen Umgebung.

Ein paar Tage später bin ich wieder in der Ciudad Don Bosco. Heute sind Prüfungen, was auch erklärt, warum es in der Schule so ungewöhnlich still ist. Obwohl heute kein Unterricht stattfindet, sehe ich Andres und seine Klassenkameraden auf einem Fußballfeld ganz in der Nähe des Rektorats. Dort werden die Jungs heute von einem Trainer der örtlichen Sportagentur Inder in Taktik usw. geschult.

„Andres Felipes Fall ist ungewöhnlich, er ist die Ausnahme von der Regel,“ erläutert Carlos Mario Florez, der die Schulung mitverfolgt hat. Florez’ Vision für das Fußballprogramm „Dad Bosco“ sieht vor, so viele Andres wie nur möglich heranzubilden, um dadurch andere zu inspirieren, seinem Beispiel zu folgen und sich von Drogen und Kriminalität fernzuhalten. Das Ziel heißt, jede Menge Tore zum Glück zu schießen.

*Name geändert

Von Eduardo Leal

© Don Bosco Mission

Ciudad Don Bosco

Die Ciudad Don Bosco in der kolumbianischen Stadt Medellín ist eine Einrichtung der Salesianer Don Boscos für benachteiligte Kinder und Jugendliche. Jungen und Mädchen können in der „Stadt“ Don Bosco lernen, Sport treiben, an Workshops und Freizeitaktivitäten teilnehmen oder auch eine Berufsausbildung absolvieren. In der 1965 gegründeten Einrichtung werden aktuell tausende Kinder und Jugendliche betreut. Das Fußballprojekt „Dad Bosco“ richtet sich vor allem an Jugendliche aus Slums. Mit Bildung und regelmäßigen Fußballtrainings sollen die Jugendlichen vor Drogen und dem Abrutschen in die Kriminalität bewahrt werden.