Der Befreiungstheologe Gustavo Gutierrez. Foto: Cristian Gennari/Romano Siciliani/KNA

Vor 50 Jahren erschien das Buch zur „Theologie der Befreiung“

Buch ‐ Ende der Einbahnstraße: Erstmals entstand vor einem halben Jahrhundert mit der Theologie der Befreiung ein praktisches Konzept zur Umsetzung des christlichen Glaubens außerhalb Europas. Rom tat sich damit schwer.

Erstellt: 17.03.2021
Aktualisiert: 27.09.2022
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Rückblickend markiert das Datum eine Zeitenwende: 1971, vor 50 Jahren, erschien das Buch des peruanischen Hochschullehrers Gustavo Gutierrez über die „Theologie der Befreiung“. Es bedeutete das Ende „des üblichen Einbahnstraßenverkehrs“ zwischen Europa und dem Rest der christlich geprägten Welt, wie der Münsteraner Theologe Johann Baptist Metz im Vorwort der deutschen Ausgabe weitblickend formuliert. Erstmals entfaltete sich ein Austausch, eine „gegenseitige Entwicklungshilfe“ - weil eine eigenständige Praxis und Theologie entstanden war.

In ihrem Mittelpunkt steht die „Option für die Armen“. Neu war, dass sich der christliche Glaube mit diesem Ansatz in der Geschichte verwurzelt; im Hier und Jetzt, orientiert an den Armen, den Opfern der Systeme – egal, ob rechts- und linksdiktatorisch oder oligarchisch ausgerichtet. Und von denen gab es in Lateinamerika viele. Ganz anders ist auch, dass nicht ein abstraktes Lehr- und Ideengebäude im Vordergrund steht, sondern das Bemühen der Menschen in ihren Basisgemeinden, ihr Leben im Sinne des Evangeliums zu deuten. Es geht um Praxis.

Theologisch kennzeichnend für den Ansatz ist die Überwindung der Neuscholastik, mit der sich der Katholizismus seit Mitte des 19. Jahrhunderts vom Rest der Welt abgekapselt hatte. „Die Kirche hat sich im Wesentlichen jahrhundertelang mit der Formulierung von Wahrheiten befasst und bei all dem nichts für die Schaffung einer besseren Welt getan“, monierte der niederländische Theologe Edward Schillebeeckx. Gutierrez, dessen Werk in 13 Sprachen übersetzt wurde, kritisierte eine Orthodoxie, „die nichts anderes ist als eine Treue zu einer hinfälligen Tradition“ – und die die Befreiungstheologie nach seinen Worten durch eine „Orthopraxie“ ersetzen wollte.

„Die“ Befreiungstheologie gab es nie

Die befreiungstheologische Bewegung entstand von unten – gedanklich auch im Umfeld des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962-1965) mit seinen Aufbrüchen. Schon kurz danach, 1968, erhob die Lateinamerikanische Bischofsversammlung in Medellin die Option für die Armen zum Programm. Trotzdem gab es nie „die“ Befreiungstheologie; sie war nie ein monolithischer Block. Stark ausgeprägt war sie im armen Nordosten Brasiliens, wo mit Bischof Helder Camara eine prägende Figur wirkte; aber auch in Mittelamerika, wo der salvadorianische Theologe Jon Sobrino und der nicaraguanische Dichter-Priester Ernesto Cardenal Akzente setzten. In Chile oder Argentinien spielten Befreiungstheologen eine geringere Rolle.

Nicht zuletzt die Vielgestaltigkeit und die begriffliche Nähe zum Marxismus in der soziologischen Analyse der Gesellschaft machten Rom nervös. Unter Papst Johannes Paul II. (1978-2005) eskalierte der Konflikt. Er belegte Theologen mit Schreibverboten und Schweigegeboten, zerschlug durch Aufteilung die Bistümer besonders sozial engagierter Bischöfe und nahm mit seiner Personalpolitik massiven Einfluss auf die Ortskirchen zwischen Mexiko und Feuerland. Paradoxerweise war es derselbe Johannes Paul II., der auf seine Art in Osteuropa befreiungstheologisch gegen die dortigen Regime agierte und zu deren Zusammenbruch beitrug – und sich später in Lehrschreiben kapitalismuskritisch zeigte.

Bruch mit Rom

Zum Bruch mit Rom kam es, als Priester staatliche Ämter übernahmen. Vor allem jene vier Geistlichen, die ab 1979 in Nicaraguas Revolutionsregierung Minister wurden, erzürnten den Vatikan. Oder Jean-Bertrand Aristide, zwischen 1990 und 2004 mehrmals Staatspräsident Haitis, und Ex-Bischof Fernando Lugo, von 2008 bis 2012 Präsident in Paraguay. Sie alle bilden aber eben nur eine befreiungstheologische Facette ab. Die meisten Vertreter akzeptieren die Trennung von kirchlichen und staatlichen Aufgaben. Sie wollen eine bessere Welt – ohne den Himmel aus den Augen zu verlieren.

In 50 Jahren hat sich die „Teologia de la liberacion“ vielfach gewandelt und erneuert. Der Samen breitete sich in Afrika, Asien und Nordamerika aus, das Themenspektrum erweiterte sich. Menschenrechte und Umweltfragen bestimmen viele Debatten an der Basis, ebenso der Feminismus. Auch Globalisierungskritik, verbunden mit der Frage nach fairem Handel und Schuldenerlass, stehen heute auf der Tagesordnung. Anderes dagegen bleibt: Ausgangspunkt ist nach wie vor die Bibel und ihre praktische Botschaft der Befreiung. Eine zentrale Stelle findet sich im alttestamentlichen Buch Exodus: „Ich habe das Elend meines Volkes in Ägypten gesehen, und ihre laute Klage über ihre Antreiber habe ich gehört. Ich kenne sein Leid.“

Ein heiliger Befreiungstheologe

Geblieben ist auch, dass Basisgemeinden deutlich weniger auf Priester und Bischöfe fixiert sind und eigene Gottesdienstformen entwickeln. Rom sucht immer noch seine Form des Umgangs, hat aber gelernt. Besonders augenfällig war das 2018, als mit Oscar Romero der bekannteste befreiungstheologische Märtyrer heiliggesprochen wurde. 1980 hatten rechtsextreme Milizionäre den Erzbischof von El Salvador am Altar erschossen.

Maßgeblich befördert hat das Heiligsprechungsverfahren übrigens ein anderer Lateinamerikaner: der Argentinier Jorge Mario Bergoglio, seit 2013 Papst Franziskus. Mit ihm rückten Armut und Ausgrenzung auch offiziell in die Mitte der katholischen Kirche.

Neues Buch zu 50 Jahren Befreiungstheologie

„Gustavo Gutierrez: Theologie der Befreiung (1971/2021) - Der bleibende Impuls eines theologischen Klassikers“ heißt ein neues Buch aus dem Innsbrucker Tyrolia Verlag. Darin befassen sich 16 Theologen mit der Wirkungsgeschichte des Werkes, das 1971, vor 50 Jahren, veröffentlicht und später in 13 Sprachen übersetzt wurde. Das Buch des peruanischen Hochschullehrers wurde zum Namensgeber einer neuen theologischen Richtung, die immer wieder in Konflikt mit dem römischen Lehramt geriet. In ihrem Vorwort schreiben die Herausgeber Michelle Becka und Franz Gmainer-Pranzl, Gutierrez habe „eine weltweite Diskussion über den Zusammenhang von religiösem Heil und gesellschaftlicher Befreiung“ angestoßen. Der heute 92-jährige Peruaner habe sich als „interdisziplinär orientierter, theologisch kompetenter, soziologisch versierter und spirituell verwurzelter Denker von Format“ erwiesen. Weil Gutierrez die europäisch-akademische Art und Weise der Theologie kritisiert habe, sei die daraus entstandene internationale Debatte „heftig und grundsätzlich“ geworden. Der Sammelband geht hauptsächlich auf eine Würzburger Tagung von 2019 zurück. Die Chefin des Katholisch-Theologischen Fakultätentages (KThF), die Tübinger Professorin Johanna Rahner, betont, die Befreiungstheologie habe zu „exemplarischen Verschiebungen der Wahrnehmung von Methoden, Denkmodellen, Sprach- und Wissenschaftsdiskursen“ geführt, die vor einem halben Jahrhundert „vielleicht provokativ erschienen sind, heute aber zum Allgemeingut gehören“. An dem von Gutierrez angestoßenen Perspektivenwechsel „arbeiten sich Theologie und Kirche indes bis heute ab“, so Rahner.

Von Michael Jacquemain (KNA)

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