„Gefühl für sich selbst und ihren eigenen Wert verloren“
So ging das viele Jahre. Marta prostituierte sich, weil ihr Mann sie dazu zwang. Wenn sie sich weigerte ins Auto zu steigen, drohte er damit, sie zu schlagen. Mehrmals ritzte er ihre Haut mit dem Messer auf. „Viele Stellen meines Körpers sind vernarbt“, sagt Marta.
Dafür schämt sie sich. Als eine der Schwestern von Red Tamar sie auf der Straße zum ersten Mal ansprach, habe sie deshalb schnell einen Pullover übergezogen. Für Marta ist eine Ordensschwester eine Respektsperson. Noch dazu trug die Schwester beim ersten Kontakt ihren Habit. Für Marta markierte also schon ihr Äußeres einen Unterschied zwischen beiden Frauen: „Für mich war es unglaublich, dass jemand wie sie tatsächlich auf jemanden wie mich zukam.“
So wie Marta reagieren viele Frauen – selbst wenn die Schwestern bei ihren Rundgängen in der Regel Jeans und Pullover tragen. „Die meisten Frauen, mit denen wir sprechen, haben das Gefühl für sich selbst und ihren eigenen Wert verloren“, sagt eine der Schwestern.
Beides will Red Tamar sie wieder spüren lassen. Egal, wen sie vor sich haben – die Schwestern sehen mehr als das Äußere. „Wir blicken in sein Inneres, das Herz und die Seele eines Menschen“, so eine der Schwestern. Seine sexuelle Identität spielt dabei keine Rolle. Red Tamar arbeitet mit Heterosexuellen genauso wie mit Schwulen, Lesben und Transsexuellen. Für die Mitglieder des Netzwerks ist das kein Widerspruch zu ihrem katholischen Glauben, sondern essenzieller Teil davon. „Am Ende des Lebens wird niemand fragen, wie wir uns sexuell orientiert haben“, sagt eine Schwester. „Was zählt ist, dass wir geliebt haben.“
Marta hat gelernt, sich selbst wieder zu spüren. Gemeinsam mit anderen Frauen in ähnlicher Situation absolvierte sie einen Kosmetikkurs. Aus persönlichen Gesprächen und Gebeten schöpfte sie den Mut, sich gegen ihren Mann zu wehren: „Ich hatte solche Angst. Ich habe am ganzen Körper gezittert, doch ich habe ,Nein‘ gesagt – einmal und immer wieder.“
2013 schlief sie zum letzten Mal gegen ihren Willen mit einem Mann. Im selben Jahr zeigte sie ihren Ehepartner wegen innerfamiliärer Gewalt an. Nicht nur sie selbst, auch ihre beiden Söhne hatte er geschlagen und mit dem Messer attackiert. Eines Tages zertrümmerte er sogar mehrere Geräte in dem Kosmetiksalon, in dem Marta nach ihrer Ausbildung gearbeitet hatte. Sie fing danach an, Schokolade und Kekse auf der Straße zu verkaufen.
Im vergangenen Jahr erreichte sie endlich die Scheidung. Der Mann, der ihr die Würde nahm, musste ausziehen. So ordnete es ein Gericht an. Zum Abschied riss er Bilderrahmen von den Wänden und schlug mit Stühlen um sich. Noch immer sind die Löcher in der Wohnzimmerwand sichtbar. Doch Marta will sie flicken, sobald sie es sich leisten kann. Und dann? Soll ihr Wohnzimmer sich in eine Herberge verwandeln: für Frauen, die versuchen, die Prostitution hinter sich zu lassen. Bei Marta sollen sie Zuflucht finden, solange sie nicht wissen, wohin.
*Der Name der Protagonistin wurde zu ihrem Schutz geändert.