Paul VI. wollte die Umsetzung des erst vor kurzem beendeten Zweiten Vatikanischen Konzils (1962-1965) in Lateinamerika ankurbeln. Der Kontinent beheimatete schon damals einen Großteil der katholischen Weltbevölkerung. Doch weite Teile des Klerus, vor allem jene, die traditionell den Eliten nahestanden, hatten auch nach der kommunistischen Revolution in Kuba die Zeichen der Zeit offenbar nicht recht mitbekommen.
Paul VI. dagegen war sensibilisiert für soziale Gerechtigkeit. Erst 1967, gut ein Jahr vor Medellin, hatte er seine Enzyklika „Populorum progressio“ veröffentlicht – ein Lehrschreiben, in dem er ungerechte Güterverteilung, egoistisches Wirtschaften und Raubbau anprangert. Die Anschauung dafür bezog er unter anderem aus Lateinamerika: Eine Reise 1960 brachte ihn, wie er in der Enzyklika schreibt, „in unmittelbare Berührung mit den beängstigenden Problemen“ sozialer Not.
Zwei Wochen vor Ende des Konzils 1965 traf sich Paul VI. mit den lateinamerikanischen Bischöfen in Rom und legte ihnen als Grundmodell des neuen, weltzugewandten kirchlichen Engagements den Dreischritt „Sehen - Urteilen – Handeln“ ans Herz – später ein Kennzeichen der Befreiungstheologie. Für die entscheidende Kurswende, mit der die Kirche Lateinamerikas auf die gesellschaftlichen Umbrüche antworten sollte, legte Paul VI. in Kolumbien 1968 also selbst die Hand ans Ruder. Wortführer der Konferenz von Medellin war ein langjähriger Freund des Papstes, Erzbischof Helder Camara (1909-1999).
Bei der dritten CELAM-Generalversammlung im mexikanischen Puebla (1979) wurde das Schlagwort der „bevorzugten Option für die Armen“ erstmals wörtlich in eine Programmschrift aufgenommen. Und fast drei Jahrzehnte später sollte ausgerechnet Benedikt XVI. (2005-2013), der einst als Glaubenspräfekt linke Auswüchse der Befreiungstheologie bekämpft hatte, bei der Eröffnung der fünften Generalversammlung 2007 im brasilianischen Aparecida diese Wendung wörtlich übernehmen. Ein argentinischer Kardinal sorgte damals als Schriftführer dafür, dass auch in Aparecida der Begriff im Schlussdokument übernommen und bekräftigt wurde. Es war Jorge Bergoglio, der heutige Papst Franziskus.