Frage: Wo sehen Sie einen Weg?
Schnabel: Für Jerusalem gibt es keine einfachen Antworten. Der Heilige Stuhl, also die katholische Kirche, hält seit Jahrzehnten an einer, wie ich finde, visionären Lösung fest. Ich bin großer Anhänger dieses Ansatzes, der sagt: Jerusalem ist zu bedeutend, als das man die Frage dieser Stadt kleinkariert nationalistisch verengt. Die Altstadt ist wirklich ein „corpus separatum“, ein getrennter Bereich, der internationalisiert werden sollte und eben niemandem allein nationalistisch verengt gehört.
Das ist der Zauber dieser Stadt mit ihrer unglaublich langen Geschichte, welche gleich drei großen Weltreligionen heilig ist. Wie langweilig wäre Jerusalem, wenn es rein jüdisch wäre, rein muslimisch, rein christlich. Der Zauber der Stadt wäre weg.
Frage: Zu Ihrer Dormitio-Abtei gehört seit über 40 Jahren das Theologische Studienjahr Jerusalem, ein wissenschaftliches Exzellenz-Projekt, das vor allem durch den Deutschen Akademischen Austauschdienst finanziert und von der Deutschen Bischofskonferenz bezuschusst wird. Was möchten Sie als Prior den Studierenden mitgeben?
Schnabel: Ich habe selbst im Jahr 2000/2001 dieses Studienjahr absolviert. Das hat mein Leben massiv verändert und geprägt. Und ich weiß von vielen anderen Studierenden, dass ihre theologische Biografie durch diese Erfahrung im positiven Sinne durchgerüttelt wurde.
Jerusalem raubt alle Selbstgefälligkeit und Sicherheiten. Es ist eine Stadt, die unfähig zum Smalltalk ist. Und gerade für junge Theologiestudierende ist sie ein Ort, an dem man abends wirklich erschöpft ins Bett sinkt, weil die Stadt voller Fragezeichen, voller Herausforderungen ist. Man muss eigentlich täglich neu um Antworten ringen. Und die Studierenden lernen: Jerusalem verbietet billige einfache Antworten und öffnet immer den Horizont zum Dritten.
Frage: Was heißt das für Sie konkret?
Schnabel: Seitdem ich an unserem Studienjahr teilgenommen habe, kann ich nicht mehr evangelisch-katholisch denken, ohne an die Kirchen des Ostens, die Orthodoxie zu denken. Ich kann nicht politisch an Israel denken, ohne an Palästina zu denken, und nicht an Palästina, ohne an Israel zu denken. Ich kann nicht mehr jüdisch-christlich denken, ohne an den Islam zu denken. Umgekehrt kann ich nicht muslimisch-christlich denken, ohne an das Judentum zu denken. Das ist eine Herausforderung.
Wer sich darauf einlässt, der wird zu einer theologischen Persönlichkeit. Und die brauchen wir, die braucht auch die theologische Landschaft in unserer heutigen Zeit mehr denn je. Damit wir die Religionen nicht den Fundamentalisten, den Fanatikern überlassen, die meinen, sie könnten in 90 Sekunden die Welt erklären.
Das Interview führte Christoph Strack.
Pater Nikodemus Schnabel (39) ist Prior der deutschsprachigen Benediktiner-Abtei Dormitio am Rande der Jerusalemer Altstadt. Dem Konvent gehören knapp 20 Mönche an. Der lateinische Name Dormitio erinnert an die Überlieferung, dass an dieser Stätte Maria entschlafen ist.
Mit freundlicher Genehmigung der Deutschen Welle zur Zweitveröffentlichung.
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