Kommt es zum Durchbruch bei libanesischer Präsidentenwahl?
Jerusalem ‐ Seit Oktober 2022 hat der Libanon keinen Staatspräsidenten. Nach dem Nationalpakt von 1943 muss er maronitischer Christ sein. Die Schiiten wollen aber als wachsender Bevölkerungs- und Machtfaktor entscheidend mitreden.
Aktualisiert: 05.06.2023
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Bekommt der Libanon nach achtmonatigem Machtvakuum und institutioneller Lähmung endlich wieder einen Staatspräsidenten? Am Samstag hat die Freie Patriotische Bewegung (CPL) als letzte der drei großen christlichen Parteien ihre Unterstützung für den früheren Finanzminister und derzeitigen Direktor des Internationalen Währungsfonds (IWF) für Nahost und Zentralasien, Jihad Azour, erklärt. Am Sonntag gab der bisherige und erfolglose Kandidat Michel Moawad seinen Rückzug bekannt und machte den Weg frei.
Nimmt der IWF-Direktor die Kandidatur offiziell an, sollte der Einberufung einer neuen Wahlsitzung nichts mehr im Wege stehen. Denn Parlamentspräsident Nabih Berri hatte nach elf ergebnislosen Wahlgängen im Januar erklärt, zu einem zwölften erst dann einzuladen, wenn eine Einigung möglich werden könnte.
Und die scheint zumindest auf einem guten Weg. Schon vor einiger Zeit hatten die beiden Schiiten-Gruppen Hisbollah und Amal ihre Unterstützung für Suleiman Frangie erklärt, Spross einer alten maronitischen Politikerfamilie aus dem nordlibanesischen Zghorta mit starken Sympathien für Syrien. Wie schon bei der Präsidentenwahl 2016 hätte die Hisbollah auch diesmal auf Differenzen im christlichen Lager gesetzt, spekulieren Kommentatoren. Damals setzte sich ihr Kandidat Michel Aoun nach zweieinhalbjähriger Vakanz durch, weil sich sein Rivale Samir Geagea von der FL (Forces Libanaises) entnervt – und aus Sorge um das Gemeinwohl – zurückzog.
Unterstützung durch Drusenführer Dschumblat?
Aber diesmal kam es anders. Die drei christlichen Wahlblöcke einigten sich auf einen gemeinsamen Kandidaten – auch aus Abneigung gegen Frangie; und um deutlich zu machen, dass die Christen ein Mitspracherecht bei der Wahl des neuen Präsidenten haben sollten, der laut Verfassung selbst maronitischer Christ sein muss.
Unterstützung dürften sie diesmal von der PSP, der Partei des Drusenführers Walid Dschumblat erhalten. Der 73-Jährige, im Bürgerkrieg von 1975 bis 1990 ein wichtiger Machtfaktor, gehörte ursprünglich zum Hisbollah-Bündnis, ging aber zunehmend auf Distanz. Sein Sohn Taymour, der zurzeit die politischen Geschäfte des Vaters übernimmt, hatte als erster einflussreicher Politiker den Namen Azour ins Gespräch gebracht. Aber auch Aoun äußerte sich zuletzt kritisch zu seinen schiitischen Verbündeten – wegen deren Bindung an den Iran.
Nach Erhebungen libanesischer Medien könnte Frangie 45 Stimmen erhalten und Azour 68 - von 128 Parlamentariern. Auf ersteren Kandidaten dürften die 31 Stimmen der beiden schiitischen Gruppen entfallen, daneben einige sunnitische und alawitische Abgeordnete sowie die von Frangies Marada-Partei. Azour könnte mit den Stimmen der drei christlichen Gruppierungen CPL, FL und der Kataib rechnen, dazu denen der drusischen PSP.
Kardinal Rai: keine rein innerchristliche Angelegenheit
Bleibt die Frage, wie das um zwei frühere Partner verkleinerte Schiiten-Lager mit dieser Situation umgeht. Als der maronitische Patriarch Kardinal Bechara Rai, der im Libanon starkes politisches Gewicht hat, vor wenigen Tagen im Vatikan mit Kardinalstaatssekretär Pietro Parolin konferierte, kam man zu dem Schluss: Die Wahl des Präsidenten sollte keine rein innerchristliche Angelegenheit sein, sondern müsse mit allen libanesischen Parteien besprochen werden.
Das brachte Rai auch in seiner Predigt am Sonntag zum Ausdruck, als er jeden Schritt in Richtung Verständnis und Konsens über die Wahl eines Präsidenten begrüßte und zugleich vor einem Gewinner-Verlierer-Verhältnis zwischen Einzelpersonen oder Teilen des Landes warnte. Das würde "zu einer gefährlichen Spaltung des Landes führen, während die Einheit und das Wohlergehen des Libanon und seines Volkes von entscheidender Bedeutung sind", sagte der Geistliche.
Unsicher ist freilich, ob die Kandidatur von Azour tatsächlich zu einem Durchbruch und zu einer erfolgreichen Präsidentenwahl führt. Viele Erwartungen sind in den vergangenen Monaten enttäuscht worden. In den bisherigen Wahlgängen gab die Mehrzahl leere oder ungültige Stimmzettel ab. Dabei hätte der wirtschaftlich darniederliegende Libanon Stabilität, Perspektiven und Reformen dringend nötig. Der zurückgetretene Kandidat Moawad brachte es laut libanesischen Medienberichten auf den Punkt: Der Wirtschaftsfachmann Jihad Azour „ist nicht unser Lieblingskandidat, aber er ist unserer Meinung nach derjenige, der das Land am besten vor dem Zusammenbruch bewahren kann".
KNA