„Frieden unter den Völkern“ wird weiter kontrovers diskutiert
Vatikanstadt ‐ Die Päpste stellen die Erhaltung des Friedens in den Mittelpunkt ihrer diplomatischen Aktivität. Ein Vorteil für sie ist eine diplomatische Doktrin, die nun 60 Jahre alt wird.
Aktualisiert: 14.04.2023
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Der Vorwurf „politischer Blauäugigkeit“ an die Adresse päpstlicher Friedenspolitik wird nicht erst gegen Papst Franziskus erhoben angesichts seiner Zurückhaltung zum russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Als Johannes XXIII. (1959-1963) am 11. April 1963 sein Lehrschreiben „Pacem in terris“ (Frieden auf Erden) zur Friedenspolitik veröffentlichte, musste ihn gar der „Osservatore Romano“ als offiziöses Blatt des Vatikans in Schutz nehmen.
Wenige Monate nach dem atomaren Abgrund der Kuba-Krise, als der Ost-West-Konflikt fast eskaliert wäre, sprach sich der Papst gegen den Rüstungswettlauf und für die Ächtung von Atomwaffen aus - und er machte seinen Frieden mit der UN und ihrer Erklärung der Menschenrechte.
Die pazifistische Linie im Bereich der Doktrin war bereits vorbereitet. Der ansonsten als konservativer Gralshüter der „Römischen Schule“ der katholischen Theologie geltende Kardinal Alfredo Ottaviani warb seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs für eine generelle Ächtung des Kriegs durch die Kirche. Doch bis zur Kuba-Krise galt der Dialog mit der Sowjetunion als undenkbar.
Erst der erfahrene Diplomat Johannes XXIII. überwand die antikommunistischen Vorbehalte seiner Vorgänger auf dem Parkett der Weltdiplomatie. Folgerichtig wendet sich seine Enzyklika „Pacem in terris“ erstmals nicht nur an die Katholiken, sondern an alle „Menschen guten Willens“. Das rund 30-seitige Dokument des schon vom Tod gezeichneten Papstes gilt damit auch als sein politisches Vermächtnis an die Menschheit
Skizze einer gerechten Weltordnung aus katholischer Sicht
Päpstliche Versöhnungsappelle und Friedensinitiativen hatte es früher schon gegeben: Benedikt XV. bemühte sich im Ersten Weltkrieg ebenso vergeblich wie Pius XII. im Zweiten Weltkrieg, dem sinnlosen Töten Einhalt zu gebieten. Doch Johannes XXIII. wollte mehr: Der Krieg sollte nicht nur im konkreten Einzelfall verhindert, sondern im Atomzeitalter strukturell unmöglich werden. Krisenprävention heißt das heute.
Erstmals skizziert die Enzyklika eine gerechte politische und wirtschaftliche Weltordnung aus katholischer Sicht. Bislang waren die Menschenrechte als Ausgeburt der Revolution und des Freimaurertums abgelehnt oder zuletzt zumindest mit großen Vorbehalten betrachtet worden.
Wie revolutionär dieser Schritt war, zeigt sich schon darin, dass der Papst eine eigene Rechtfertigung für notwendig erachtet. Er verkenne nicht, dass „gegenüber einigen Kapiteln mit Recht von manchen Einwänden geäußert worden sind“, heißt es in der Enzyklika.
Nichtsdestoweniger sei diese Erklärung „gleichsam als Stufe und als Zugang zu der zu schaffenden rechtlichen und politischen Ordnung aller Völker der Welt zu betrachten“. Die Enzyklika gipfelt schließlich in der Forderung nach einer umfassenden globalen Autorität. „So folgt um der sittlichen Ordnung willen zwingend, dass eine weltweite politische Gewalt eingesetzt werden muss.“ Ein Jahr nach Veröffentlichung der Enzyklika war der Heilige Stuhl als ständiger Beobachter bei den Vereinten Nationen vertreten.
Weiterhin aktuell, weiterhin kontrovers diskutiert
Die traditionelle katholische Lehre vom „gerechten Krieg“ erschien Johannes XXIII. überholt oder zumindest nur noch eingeschränkt gültig: „Darum widerstrebt es in unserem Zeitalter, das sich rühmt Atomzeitalter zu sein, der Vernunft, den Krieg noch als das geeignete Mittel zur Wiederherstellung verletzter Rechte zu betrachten“, heißt es in der Enzyklika.
Kritiker hielten unterdessen dem Papst selbst zu viel guten Willen und zu wenig Realitätssinn vor. So sah sich die päpstliche Zeitung „Osservatore Romano“ zehn Tage nach der Veröffentlichung der Enzyklika veranlasst, den Papst gegen Vorwurf politischer Blauäugigkeit zu verteidigen.
60 Jahre nach ihrer Veröffentlichung hat die Enzyklika nichts an Aktualität eingebüßt. An ihren Prinzipien orientieren sich seitdem die Päpste, mag es der westlichen Öffentlichkeit passen oder nicht. So traf die Verurteilung der Irak-Kriege oder der Interventionen in Syrien auf Widerstand in neokonservativen Kreisen diesseits und jenseits des Atlantiks.
Ob diese Zurückhaltung und die diplomatischen Aktivitäten des Vatikan auch im Konflikt um die Ukraine am Ende Früchte tragen werden, kann heute niemand sagen. Doch kann der römische Pontifex als Friedensvermittler eine besondere Rolle spielen – damals bei Johannes XXIII. in der Kuba-Krise und heute bei Franziskus angesichts des russischen Angriffskriegs in der Ukraine.
KNA