Schwester Bibiane Bokamba Nzali leitet die Organisation zur Beendigung weiblicher Genitalverstümmelung
Internationaler Tag gegen weibliche Genitalverstümmelung

„Die Mädchen sind traumatisiert, manche bringen sich danach um“

Aachen ‐ In Tansania wird weibliche Genitalverstümmelung weiterhin praktiziert. Die Folgen sind gravierend, berichtet Sternsinger-Partnerin Schwester Bibiane Bokamba Nzali.

Erstellt: 06.02.2023
Aktualisiert: 31.01.2023
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Der Internationale Tag gegen weibliche Genitalverstümmelung am 6. Februar macht auf Mädchen und Frauen aufmerksam, die von dieser schweren Menschenrechtsverletzung betroffen sind. Schwester Bibiane Bokamba Nzali leitet die Organisation zur Beendigung weiblicher Genitalverstümmelung (Association for Termination of Female Genital Mutilation, ATFGM) in Masanga, Tansania. Im Interview berichtet die Sternsinger-Partnerin über die kinderrechtsverletzende Praxis in dem ostafrikanischen Land – und ihren Einsatz für Mädchenschutz.

Frage: Wie verbreitet ist die Praxis der weiblichen Genitalverstümmelung in Tansania? 

Schwester Bibiane Bokamba Nzali: Weibliche Genitalverstümmelung wird noch vielfach praktiziert. Nach offiziellen Angaben war im Jahr 2019 landesweit jedes zehnte Mädchen davon betroffen. In fünf Regionen Tansanias ist die Rate mit bis zu zwei Dritteln betroffener Mädchen und Frauen besonders hoch. 

Frage: Wie und durch wen wird weibliche Genitalverstümmelung gerechtfertigt? 

Sr. Bokamba Nzali: Traditionelle und von lokalen Gemeinschaften respektierte Führungspersönlichkeiten rechtfertigen sie, indem sie sagen, diese Praxis gehöre zu ihrer Kultur. Ein unbeschnittenes Mädchen könne von seiner Gemeinschaft nicht akzeptiert und müsse von seiner Familie und seiner Gemeinschaft ausgegrenzt werden.

Frage: In welchem Alter sind Mädchen gefährdet, genital verstümmelt zu werden?

Sr. Bokamba Nzali: Früher waren es Mädchen zwischen 14 und 17 Jahren. Aber da wir die Kinder in Schulen für das Problem sensibilisieren und einige Mädchen dieser Altersgruppe in Schutzzentren Zuflucht suchen, haben manche Gemeinschaften damit begonnen, Mädchen schon ab dem Alter von sieben Jahren zu beschneiden.

Frage: Was sind die Folgen der Genitalverstümmelung?

Sr. Bokamba Nzali: Sie sind gravierend. Alle Mädchen haben bei der Beschneidung große Schmerzen, da sie nicht betäubt werden. Sie verlieren viel Blut und einige sterben an den Folgen der Misshandlung. Zudem werden die Mädchen traumatisiert, da die Verstümmelung mit Gewalt, ohne ihre Zustimmung geschieht. Manche Mädchen bringen sich danach um. Andere können sich in der Schule nicht mehr konzentrieren. Viele isolieren sich, haben kein Selbstvertrauen und fürchten sich vor jedem. Die meisten Mädchen brauchen psychologische Hilfe. Ein weiteres Problem: Viele Mädchen werden nach der Beschneidung verheiratet, gehen nicht mehr zur Schule und werden sehr jung schwanger. 

Frage: Wie bekämpft Ihre Organisation die Praxis der Genitalverstümmelung?

Sr. Bokamba Nzali: Wir führen Gespräche in den Dörfern und zeigen Videos über die Auswirkungen von Genitalverstümmelung und Kinderheirat. Wir organisieren Treffen mit Schulkindern, bei denen sie Lieder, Gedichte und Spiele mit Botschaften gegen die Genitalverstümmelung vorbereiten. Wir unterstützen Kinderrechteclubs in Schulen, wo Mädchen sich austauschen können und über den Kinder-Notruf und Schutzzentren informiert werden. Wir treffen uns mit Regierungsbehörden, dem Gender- und Kinderreferat der Polizei, den Sozialämtern und mit Rechtsanwälten, um sie für die Bekämpfung von Genitalverstümmelung zu sensibilisieren. Fälle von Kinderrechtsverletzungen bringen wir vor Gericht. Jedes Jahr während der traditionellen „Beschneidungsperiode“ im Dezember organisieren wir Rettungscamps. Und wir unterstützen Mädchen, die von ihren Eltern verstoßen wurden, weil sie sich einer Genitalverstümmelung verweigern. 

Frage: Wie treten Sie mit den Mädchen in Kontakt?

Sr. Bokamba Nzali: Bei Schulbesuchen, Schulfesten und in Schulclubs, bei öffentlichen Veranstaltungen zu Menschenrechten, bei Gesprächen in Dorfgemeinschaften oder bei Hausbesuchen und in Rettungscamps. 

Frage: Wie arbeiten Sie mit den Eltern zusammen? 

Sr. Bokamba Nzali: Bei Hausbesuchen sprechen wir mit ihnen über die schweren Folgen von Genitalverstümmelung. Außerdem erarbeiten wir mit ihnen einen alternativen und kinderrechtskonformen Übergangsritus, der die Genitalverstümmelung ersetzt. Zudem organisieren wir Versöhnungstreffen, um Eltern und verstoßene Mädchen wieder zu vereinen. 

Frage: Kooperieren Sie mit Religionsgemeinschaften?

Sr. Bokamba Nzali: Ja, wir arbeiten eng mit religiösen Autoritäten zusammen, um Gemeindemitglieder zu sensibilisieren. Wir arbeiten auch während der Beschneidungsperiode zusammen, um Mädchen zu retten. 2020 sind beispielsweise 83 Mädchen in Kirchen und 13 Mädchen in Moscheen geflohen, wo sie Schutz fanden. 

Frage: Was erschwert Ihre Arbeit?

Sr. Bokamba Nzali: Die Ethnie der Kuria im Norden Tansanias betrachtet weibliche Genitalverstümmelung als Teil ihrer Kultur. Daher nehmen Gemeindemitglieder Aktivitäten gegen diese Praxis als Verstoß gegen ihre Kultur wahr und bedrohen uns. Politiker sagen oft nichts zur Genitalverstümmelung – aus Angst, bei den Wahlen Stimmen zu verlieren. Die Gesetze gegen Genitalverstümmelung werden nicht konsequent angewendet und sind lückenhaft. Problematisch sind zudem fehlende Transportmöglichkeiten zur Rettung der Mädchen und die schlechte Infrastruktur. Außerdem fehlen uns finanzielle Mittel, um verstoßenen Mädchen eine Ausbildung zu ermöglichen. Daher sind wir dem Kindermissionswerk ‚Die Sternsinger‘ sehr dankbar dafür, dass es in den letzten drei Jahren mehr als hundert Mädchen unterstützt hat, die verstoßen wurden. 

Frage:Auf welche Erfolge sind Sie besonders stolz?

Sr. Bokamba Nzali: Seit Beginn unserer Arbeit im Jahr 2008 konnten wir 4.128 Mädchen retten. 25 Frauen, die die Beschneidungen vornahmen, wurden sensibilisiert und haben ihre Tätigkeit aufgegeben. Stolz sind wir auch auf die gute Zusammenarbeit mit den Verantwortlichen der verschiedenen Glaubensrichtungen und darauf, dass es heute an 193 Grund- und Sekundarschulen Kinderrechteclubs gibt. Wir konnten 300 Mädchen eine Ausbildung ermöglichen. Davon haben 19 Mädchen die Universität abgeschlossen und eine Anstellung gefunden, elf Mädchen studieren noch, drei Mädchen werden an einer Fachhochschule zu Krankenschwestern ausgebildet und alle anderen sind in der Sekundarstufe.

Kindermissionswerk ‚Die Sternsinger‘