Gedenkstätte für die Millionen Opfer des Holodomor, der großen Hungersnot von 1932 bis 1933, vor dem St. Michaelskloster in Kiew.
Papst Franziskus: „schrecklicher Völkermord“.

Holodomor – Hungertod für Millionen Ukrainer

Der griechisch-katholische Großerzbischof von Kiew, Swjatoslaw Schewtschuk, warnt: Die Hungersnot Holodomor vor 90 Jahren war ein russischer Völkermord –und „eine Folge des Verlusts der ukrainischen Staatlichkeit“.

Erstellt: 27.11.2022
Aktualisiert: 29.11.2022
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Von Oliver Hinz (KNA)

Für die allermeisten Ukrainer steht fest: Die Hungersnot Holodomor von 1932/33 war ein Genozid am ukrainischen Volk. 93 Prozent der Erwachsenen in der Ukraine teilten diese Ansicht jüngst in einer Umfrage; nur 3 Prozent widersprachen. Auch Papst Franziskus sieht in der vom damaligen Sowjet-Diktator Josef Stalin herbeigeführten Hungerkatastrophe einen „schrecklichen Völkermord“. Das schrieb er vor wenigen Tagen in einem Brief an die ukrainische Bevölkerung.

Doch Moskau bestreitet trotz klarer Belege jede anti-ukrainische Stoßrichtung der Hungersnot - und lehnt kategorisch ab, von einem Völkermord zu sprechen. Im ebenfalls sowjetischen Kasachstan etwa habe es gemessen an der Bevölkerungszahl mehr Opfer als in der Ukraine gegeben.

Der Holodomor gilt als größtes einzelnes sowjetisches Verbrechen. Stalin ordnete die Hungersnot zwar offenbar nicht per Dekret an. Aber Historiker sind sich heute weitgehend einig, dass er für den Hungertod von rund vier Millionen Ukrainern verantwortlich ist. Er befahl die Zwangskollektivierung in der Landwirtschaft und forderte von den Bauern weit überzogene Abgabequoten für Getreide. Zudem exportierte die Sowjetunion trotz Hunger Weizen ins westliche Ausland. Vieh, Getreide und Saatgut ließ Stalin in ukrainischen Dörfern beschlagnahmen. Hungergebiete wurden abgeriegelt. Je nach Ort verhungerten zwischen 10 und 60 Prozent der Bevölkerung.

Auf Antrag von SPD, CDU/CSU, Grünen und FDP soll nun auch der Bundestag den Holodomor als Völkermord anerkennen. Anlass ist der ukrainische Gedenktag für die vor 90 Jahren verhungerten Millionen Menschen. Im Fall dieses „politischen Verbrechens“ sei „das Streben der sowjetischen Führung nach Kontrolle und Unterdrückung der Bäuerinnen und Bauern, der Peripherien des sowjetischen Herrschaftsprojektes sowie der ukrainischen Lebensweise, Sprache und Kultur verschmolzen“, heißt es im Resolutionsentwurf. Die gesamte Ukraine habe unter Hunger und Repressionen gelitten. Und weiter: „Damit liegt aus heutiger Perspektive eine historisch-politische Einordnung als Völkermord nahe. Der Deutsche Bundestag teilt eine solche Einordnung.“

Damit würde sich die Bundesrepublik rund 20 Staaten anschließen, die den Holodomor bereits per Parlamentsvotum als Genozid einstufen; etwa: Tschechien, Polen, Kanada und Australien. Die Abgeordneten der Ukraine verabschiedeten 2006 eine entsprechende Resolution. Vor kurzem appellierten sie erneut an die Parlamente der Welt, die damalige Tötung durch Hunger als Genozid anzuerkennen.

Der Erfinder des Begriffs „Genozid“, der polnisch-jüdische Jurist Raphael Lemkin, war bereits 1953 überzeugt, dass der Holodomor ein „klassisches Beispiel eines sowjetischen Genozids“ war. Er sah den Holodomor als Höhepunkt einer sowjetischen genozidalen Politik gegenüber der Ukraine, die in der Tradition des Zarenreichs stand. Fast bis zum Ende der Sowjetunion 1991 war die verheerende Hungersnot ein absolutes Tabu. Erst 1989 erinnerte in Charkiw ein Holzkreuz an die Opfer. Seit 1998 gibt es einen nationalen Gedenktag. 2010 eröffnete in der Hauptstadt Kiew ein „Museum des Holodomor-Genozids“.

Wie der griechisch-katholische Großerzbischof von Kiew, Swjatoslaw Schewtschuk, ziehen heute viele in der Ukraine Parallelen zwischen dem Holodomor und dem jetzigen russischen Angriffskrieg. „Wir sind uns im Klaren, dass wir mit dem Verlust unserer Staatlichkeit erneut Opfer eines Völkermordes werden“, so Schewtschuk am Wochenende. Der Holodomor sei geplanter Völkermord des stalinistischen Regimes gewesen – und eine „Folge des Verlusts der ukrainischen Staatlichkeit“. (KNA)