„Die Angst sitzt allen im Nacken“

„Die Angst sitzt allen im Nacken“

Syrien ‐ Trotz der vereinbarten Waffenruhe flammen in Syrien immer wieder Kämpfe auf. Insbesondere die Frauen in den umkämpften Gebieten werden zunehmend Opfer von Gewalt, wie Astrid Meyer weiß. Die Nahost-Expertin bei Misereor wird von den Partnern des Hilfswerks laufend über die Situation vor Ort informiert - und berichtet von einer besorgniserregenden Entwicklung.

Erstellt: 15.04.2016
Aktualisiert: 15.04.2016
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Seit fünf Jahren befindet sich Syrien in einem Bürgerkrieg, der immer grausamer wird. Trotz der vereinbarten Waffenruhe flammen immer wieder Kämpfe auf. Insbesondere die Frauen in den umkämpften Gebieten werden zunehmend Opfer von Gewalt, wie Astrid Meyer weiß. Die Nahost-Expertin bei Misereor wird von den Partnern des Hilfswerks laufend über die Situation vor Ort informiert - und berichtet im Interview von einer besorgniserregenden Entwicklung.

Frage: Wie gut hält nach Ihren Informationen die Waffenruhe?

Meyer: Vor genau einer Woche  hat uns eine Mail vom Leiter des Rajaa Klinikums aus Aleppo erreicht, das wir unterstützen. Er schrieb, dass allein an einem Tag 40 Tote und Verletzte in die Klinik gebracht worden sind. Auch die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte spricht insbesondere seit April von wieder aufflammenden Kämpfen. Seit Anfang April nehmen die Kämpfe dort ein besorgniserregendes  Ausmaß an.

Bereits seit Beginn  der Waffenruhe, die am 27. Februar in Kraft getreten ist, gibt es täglich schätzungsweise Dutzende Verstöße. Hintergrund ist, dass der Waffenstillstand ja weder für den syrischen Al Kaida-Ableger Nusra noch für den sogenannten Islamischen Staat und andere radikalislamische Gruppierungen gegolten hat. Sie hatten der Vereinbarung nicht zugestimmt. Mitte März kündigte dann die syrische Armee an, rund um den 10. April  Aleppo als größte Stadt und Wirtschaftszentrum des Landes zurückzuerobern. Die aktuell  massiven Kämpfe vergrößern den  Druck auf die Menschen in Aleppo und in Al Raqua, wo es nach meinen Informationen täglich bis zu 30 Tote und Verletzte gab.

Bild: © Misereor

Frage: Wie wirkt sich das auf die humanitäre Situation aus?

Meyer: Insgesamt ist die medizinische Versorgung enorm schwierig, weil die vormals staatlichen Kliniken darniederliegen und sich ein florierender Schwarzmarkt für Medikamente und Verbandsmaterial breit gemacht hat. Das alles muss komplett durch Hilfsorganisationen aufgefangen werden. Darum haben wir unsere Unterstützung für das All Rajaa Hospital aufgestockt. Die Belegung der Klinik ist extrem hoch und ein neues Röntgengerät war unbedingt erforderlich.

Auch die Trinkwasserversorgung ist schon  seit Beginn der Krise 2012 vor allem in Aleppo eine Katastrophe. Wasser wird strategisch von den Konfliktparteien als Waffe eingesetzt, was einen Bruch des Kriegsrechts bedeutet. Darum haben wir in Kooperation mit unseren Partnern vor Ort ein Wasserprojekt auf den Weg gebracht.

In der Großstadt Aleppo kommt es auch ständig zu Stromausfällen, die mit Generatoren überbrückt werden müssen. Unsere Partnerorganisationen  haben in höher gelegene Ortschaften warme Kleidung, Decken und Hygieneartikel gebracht, weil es bis jetzt dort ziemlich kalt war.

Frage: Wer braucht die Hilfe am dringendsten?

Meyer: Hilfe brauchen vor allen Dingen diejenigen, die nicht fliehen können: Menschen mit angeschlagenem Gesundheitszustand, Ältere oder Leute mit Behinderung. Darum unterstützen wir in Aleppo, Damaskus, Knave und Latakia Sozialzentren der Franziskaner, in denen diesem Klientel geholfen wird mit Essen und Schlafplätzen oder durch Reparaturen an ihren zerstörten Häusern. Die Sozialzentren hat es bereits vorher gegeben, aber der Bedarf ist dermaßen gestiegen, dass die Franziskanerbrüder  nicht mehr hinterhergekommen sind. Darum haben sie bei Misereor um Unterstützung gebeten.

Frage: Über die Frauen auf der Flucht wird immer mal geschrieben. Was ist mit den Frauen vor Ort?

Meyer: Wir haben aus verschiedenen jüngsten Berichten von Partnern herausgelesen, dass insbesondere die Last der zurückgebliebenen Frauen enorm hoch ist. Gegangen sind ja vor allem die jüngeren Männer in der Hoffnung, dass sie ihre Familien nachholen können. Frauen stehen jetzt in einer völlig neuen Verantwortung und müssen ihre Familien durchbringen. Das ist aufgrund der traditionellen Rollenzuweisung, die Frauen an Haushalt und Familie bindet, besonders problematisch. Viele Frauen begeben sich in dieser neuen Situation häufig in ausbeuterische Arbeitsbedingungen und sind dabei Übergriffen ausgesetzt.  

Bild: © KNA

Frauen und andere schwächere Mitglieder der Gesellschaft werden zunehmend Opfer von Aggressionen. Besonders an die Nieren gehen mir die Berichte darüber, dass häusliche Gewalt ein erschreckendes Ausmaß angenommen hat. Wenn der Druck von außen durch Kriegshandlungen und Zerstörung so massiv wird, wenn Bedrohung und Unsicherheit ständig weiterbestehen und wenn Angehörige sterben, dann kann das auch die Familienverhältnisse zerrütten. Dazu kommt, dass die Männer ihre normalen Einkommensmöglichkeiten verloren haben und von der Situation völlig überfordert sind: manche radikalisieren sich, manche desertieren, andere werden gewalttätig. Die Verrohung im Umfeld setzt sich also in den Familien fort. Zusätzlich leben die Familien unter ganz veränderten Bedingungen zusammen, wenn beispielsweise ihre Häuser zerstört worden sind oder man bei Angehörigen Zuflucht finden muss.

Frage: Wie viele Menschen begeben sich nach wie vor auf die Flucht?

Meyer: Unverändert viele machen sich auf den Weg, aber Jordanien und der Libanon handhaben ihre Einwanderungspolitik mittlerweile sehr strikt. Nach fünf Jahren Krise und großer Solidarität gibt es mittlerweile kaum mehr legale Fluchtwege in die beiden Länder. Die syrischen Flüchtlinge geraten in sehr schwierige und bedrohliche Situationen, was wiederum ihre zurückgebliebenen Angehörigen stark belastet.

Frage: Mit welchen Problemen kämpfen die Helfer?

Meyer: Es ist ein ständiges Austarieren, sich sowohl mit den Regimeangehörigen wie mit den anderen Milizen gut zu stellen, wenn man Hilfslieferungen erwartet beispielsweise für das Al Rajaa Hospital. Für alle Projekte in Aleppo läuft der Geldtransfer über Beirut, das heißt, ein Franziskaner macht sich regelmäßig auf den Weg mit einem Koffer voll Geld. Er muss Geleitschutz in Anspruch nehmen und auch mal in irgendeiner Form Bakschisch bezahlen. Das ist so, sonst wäre Hilfe gar nicht möglich.

Frage: Mit wem arbeiten Sie vor Ort genau zusammen?

Meyer: Wir arbeiten mit Franziskanern, Maroniten und Jesuiten zusammen, die unsere Projekte vor Ort managen. Als ich die Gelegenheit hatte, mit ihnen zu sprechen, habe ich eine ganz authentische Haltung wahrgenommen, sich als Christ an die Seite der Benachteiligten zu stellen. Ein Jesuit, den ich aus Ägypten kenne, Abuna Magdi, ist ein besonders krisenerfahrener Mann. Er arbeitet jetzt in Homs. Für ihn ist das Wichtigste, sich an die Seite der Hilfebedürftigen zu stellen, egal welcher Religion sie angehören. Ich habe den Eindruck, dass die Zusammenarbeit zwischen Ordensleuten,  Laien und Ehrenamtlichen sehr gut läuft.

Frage: Wie schätzen Sie die Chancen für einen Frieden in Syrien ein?

Meyer: Die Menschen sehen sich in einem Stellvertreterkrieg, aber die Mehrheit ist davon überzeugt, dass es keinen Frieden geben wird, solange Assad an der Macht ist. Dieser Diktator hat einfach über Jahrzehnte so viel Unrecht zu verantworten durch seine verschiedenen Geheimdienste. Die Mehrzahl aller Familien ist betroffen. Tausende, die sich nur im Geringsten gewehrt haben, sind verschwunden oder wurden so klein gemacht, dass sie danach den Mund gehalten haben. Ganz aktuell ist das natürlich noch extremer: Über die Verbrechen von Assad zu sprechen, ist sehr schwierig und gefährlich. Die Angst sitzt allen im Nacken. Meinem Eindruck nach gibt es keine Möglichkeit für Frieden unter Assad. Es muss ein international begleiteter Übergangsprozess mit einer Übergangsjustiz etabliert werden, der uns noch sehr lange beschäftigen wird.

© Misereor