
Papst Franziskus, der Streetworker
Papst ‐ Seit fünf Jahren ist der erste Lateinamerikaner und Jesuit im Amt und bringe seither die Kirche von der Sakristei auf die Straße: Papst Franziskus ist ein Segen für die Menschen in Lateinamerika und der ganzen Welt, sagt der Adveniat-Hauptgeschäftsführer Pater Michael Heinz.
Aktualisiert: 26.02.2018
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Seit fünf Jahren ist der erste Lateinamerikaner und Jesuit im Amt und bringe seither die Kirche von der Sakristei auf die Straße: Papst Franziskus ist ein Segen für die Menschen in Lateinamerika und der ganzen Welt, sagt der Adveniat-Hauptgeschäftsführer Pater Michael Heinz.
Frage: Pater Heinz, ist die Kirche unter Papst Franziskus lateinamerikanischer geworden?
Pater Heinz: Der Papst ist Argentinier und bringt selbstverständlich seine Erfahrungen vom anderen Ende der Welt mit nach Rom: die lateinamerikanische Kolonialgeschichte, die Unterdrückung während der argentinischen Militärdiktatur (1976-1983), die krisengeschüttelte Wirtschaftspolitik seines Heimatlandes. Er sieht die Welt aus der Perspektive der Menschen, denen er in Argentinien und in ganz Lateinamerika begegnet ist. Das ist oftmals der Blick der Armen, derer, die kaum Zugang haben zu Bildung und zum Gesundheitssystem. Menschen, die ums Überleben kämpfen. Die Theologie des Volkes Gottes und die fünfte Versammlung der Bischofskonferenzen von Lateinamerika und der Karibik im brasilianischen Marienwallfahrtsort Aparecida (2007) sind die wesentlichen kirchlichen Erfahrungen, die er aus Lateinamerika mit nach Europa bringt. So bekommt die Kirche durch Papst Franziskus stärkere lateinamerikanische Impulse.
Frage: Was für Impulse sind das? Oder anders gefragt: Was zeichnet Franziskus aus?
Heinz: Die Bescheidenheit in Lebensstil und Auftreten haben Papst Franziskus weit über die katholische Kirche hinaus zum Sympathieträger gemacht. Er spricht Klartext. Seine Sprache ist eindeutig und gleichzeitig bildreich. Mit Sätzen wie „Diese Wirtschaft tötet“, spricht er auch viele Menschen außerhalb der Kirche an. Er ist ein Streetworker: Papst Franziskus bringt die Kirche von der Sakristei auf die Straße, wie er es schon als Erzbischof von Buenos Aires mit seinen zahlreichen Initiativen an öffentlichen Plätzen getan hat.
Frage: Welche Schwerpunkte setzt Papst Franziskus?
Heinz: Papst Franziskus stellt die armen und ausgegrenzten Menschen in den Mittelpunkt, also ganz in der Linie der vorrangigen Option für die Armen. Sie sind es, die er anspricht; ihren Glauben und ihre Nöte nimmt er wahr und ernst. Er lässt sich auf die Armen, die Kranken, die Flüchtlinge und Migranten, die Häftlinge, die Arbeitssuchenden und alle Verlierer des neoliberalen Wirtschaftssystems ein. Und er fordert alle Menschen guten Willens auf, ihm an die Ränder der Gesellschaft zu folgen und die Marginalisierten wieder in die Mitte zu holen. Dafür müssen wir die sozialen Brennpunkte, Krankenhäuser, Flüchtlingsunterkünfte und Gefängnisse aufsuchen. Wir müssen unser Leben und auch unseren Wohlstand mit den an den Rand Gedrängten teilen. Um es mit den Worten des seligen Erzbischofs Oscar Romero zu sagen: Transzendenz bedeutet, aus der Mitte des Elends selbst diese Lage zu überschreiten, den Menschen zu erheben, ihn voranzubringen und ihm zu sagen: Du bist kein Abfall. Du gehörst nicht an den Rand. Das Gegenteil ist der Fall: Du hast eine große, große Bedeutung.
Papst Franziskus interpretiert die Option für die Armen so umfassend, dass er die Kirche in seiner Enzyklika Laudato si‘ zum Anwalt der Erde macht, die unter der Ausbeutung durch die Menschheit leidet. Auch im Kollegium der Bischöfe setzt er Themen wie Familie, Jugend und Amazonas. Das sind spannungsgeladene Themen der Kirche. Er scheut sich nicht vor innerkirchlichen Konflikten.
Frage: Insgesamt lässt sich ein Haltungswechsel für das Pontifikat von Papst Franziskus feststellen. Worin besteht dieser?
Heinz: Papst Franziskus stellt im Sinne einer ganzheitlichen Pastoral den Menschen in den Mittelpunkt, wenn er zum Beispiel einen barmherzigen Lösungsweg für die leidvolle Situation von wiederverheiraten Geschiedenen in seinem Schreiben Amoris Laetitia aufzeigt. Von der persönlichen Ebene aus nimmt er die gesellschaftlichen Strukturen in den Blick, die vielen Menschen ein Leben in Würde verwehren und den respektlosen Umgang mit der Natur fördern. Er macht deutlich, dass die Kirche einen durchaus wichtigen Beitrag leisten kann, aber nicht allein agieren sollte. Er bezieht die Erkenntnisse der Natur- und Sozialwissenschaften mit ein und macht so seine Botschaft anschlussfähig und prophetisch. Indem er seinen eigenen Standpunkt relativiert, gewinnt dieser an Dynamik.
Frage: Sie haben den Papst auf seiner Kolumbienreise begleitet …
Heinz: Papst Franziskus hat in Kolumbien das Adveniat-Projekt Talitha Kum besucht. In Cartagena haben 140 Mädchen aus dem Armenviertel Afriquita einen Ort gefunden, an dem sie sich angenommen und zuhause fühlen. Ihr Alltag ist von Armut, Gewalt, sexuellen Übergriffen und zerrütteten Familienverhältnissen geprägt. Mit seinem Besuch hat der Papst unseren Einsatz für die Jugendlichen und Armen gewürdigt und hat einmal mehr seine Sensibilität für die alltäglichen – leider längst schon alltäglich gewordenen – Skandale in einer zutiefst ungerechten Welt bewiesen. Mit dem Einsatz für die Mädchen aus dem Armenviertel Afriquita leistet Adveniat mit seinen kolumbianischen Partnern einen Beitrag dazu, dass die Vision von Papst Franziskus Wirklichkeit wird, die er in seinem Grußwort an das kolumbianische Volk zu Beginn seiner Reise formulierte: Mögen eure Träume und Pläne Kolumbien Sauerstoff geben und es mit heilbringenden Utopien erfüllen!
Frage: Während seine Landsleute sehnsüchtig auf einen Argentinienbesuch warten, wählte der Papst für die sechste Reise auf seinen Heimatkontinent Chile und Peru aus. Warum?
Heinz: Mit seiner Reise hat er ein weiteres Mal seinen Worten Taten folgen lassen. Papst Franziskus sucht nicht das Heimspiel. Er geht vielmehr selbst an die Ränder der Gesellschaft und stellt sich kompromisslos an die Seite der Armen und Ausgeschlossenen. In Chile besuchte er Häftlinge im Gefängnis und Kinder, die in Heimen häufig erstmals so etwas wie ein Zuhause erleben. Er hat sich mit Migranten getroffen, die auf der Suche nach Lebens- und Arbeitsperspektiven ihre Heimat verlassen haben. Mit dem Besuch im südchilenischen Temuco und des peruanischen Amazonasgebietes hat er zudem die geschundene Umwelt und die indigenen Völker, deren Leben und Rechte massiv bedroht sind, in den Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit gestellt. Er hat die Gier auf Erdöl, Gas, Holz und Gold sowie das Agrobusiness angeprangert, welche Amazonien und seine Völker vernichten.
Der Besuch des Amazonasgebietes war nur eine Station in einem langfristigen Prozess, der sich von der Gründung des panamazonischen kirchlichen Netzwerks REPAM 2014 über die Sozial- und Umweltenzyklika Laudato si‘ bis zur Amazonas-Synode 2019 in Rom erstreckt. Das Amazonas-Netzwerk, zu dem auch das Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat gehört, schult systematisch die Vertreter der indigenen Völker, damit sie ihre Rechte einklagen können und nicht tatenlos zusehen müssen, wie ihre Lebensgrundlage und die der gesamten Menschheit vernichtet wird. Papst Franziskus hat darauf hingewiesen, dass die Indigenen mit ihrer Art zu leben und ihrer Weisheit die Welt verändern können. Mit seinem Besuch und mehr noch mit der Synode zeigt er, dass er selbst von ihnen lernen will, um auch in dieser Hinsicht Beispiel zu geben.
Frage: Sie haben Papst Franziskus nicht nur in Lateinamerika, sondern auch in Rom getroffen. Was hat er Adveniat mit auf den Weg gegeben?
Heinz: Adveniat ist sehr wichtig für die Menschen in Lateinamerika, hat der Papst im Rahmen der Privataudienz betont. Mehr als eine halbe Stunde hat er sich für das vertrauensvolle Gespräch Zeit genommen, zugehört und die wichtigen Themen des Kontinentes und der Kirche angesprochen. Auch diese wertschätzenden Begegnungen sind es, die die Faszination Franziskus für mich ausmachen. Papst Franziskus ist ein Segen, nicht nur für die Menschen in Lateinamerika und natürlich für Adveniat, sondern für die ganze Welt.
Das Interview führte Carolin Kronenburg.
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