In zwei Beispielen kann exemplarisch gezeigt werden, wie das Evangelium aus der Perspektive der sogenannten andinen Kosmovision, also der Kultur und Religion der Andenvölker, neu entdeckt werden kann:
Erstens: In einer befreienden Pastoral, wie sie seit 1962 in einigen Regionen der Anden entstanden ist, wird die „Minga“, also die gemeinschaftliche Arbeit und der Einsatz für die Gemeinschaft, als Mittel der Evangelisierung vorgestellt. Zuerst wird an die Kultur vor der Zeit der Eroberung erinnert. Die typische Arbeitsweise aus jener Zeit, die „Minga“, wird auch heute noch praktiziert. Das gemeinschaftliche Arbeiten, Säen und Ernten ist Grundlage des Zusammenlebens. Der Boden gehörte allen. Die Menschen lebten als Mitglieder eines „Ayllu“, also einer Gemeinschaft zusammen. Die Landwirtschaft und die kunstvollen Bewässerungsanlagen wurden gemeinsam betrieben. Das Wasser wurde entsprechend den Bedürfnissen verteilt, denn auch das Wasser gehörte allen. Alle Produkte der Mutter Erde sind für alle bestimmt. Auch alltägliche Arbeiten wie gemeinsamer Brücken- und Hausbau wurden in Gemeinschaftsarbeit geleistet und gemeistert.
Die „Minga“ wird heute als ein Weg verstanden, den Individualismus überwinden zu können, und sie ist eine Perspektive für die Zukunft. Eigene Werte und Kräfte können entdeckt und selbstbewusst vertreten werden. Die „Minga“ kann auch als Katechese verstanden werden, als ein Weg, die Werte des Evangeliums zu vertiefen. Und auch umgekehrt gilt: Werte des Evangeliums können im Lichte der eigenen Erfahrungen als Bereicherung für das eigene Leben und die Kultur entdeckt werden, was zu einer gegenseitigen Bereicherung der Erfahrungen, zu einem besseren gegenseitigen Verständnis und zu einer besseren Praxis führt.
Die Entdeckung der Werte der eigenen Kultur ist für das Selbstbewusstsein der heute lebenden indigenen Landarbeiter, also der „Campesinos“, von großer Bedeutung. Entscheidend ist, dass in diesen wiederentdeckten Werten viele grundlegende Werte des Evangeliums enthalten sind: Solidarität, praktische und gegenseitige Hilfe, Leben in Gemeinschaft, Dienst an der Gemeinschaft. Die gemeinschaftliche Arbeit wurde als ein Fest verstanden. Denn genauso wichtig wie die Arbeit war das gemeinsame Essen, die Musik und der Tanz. Daran lässt sich heute leicht anknüpfen. Die gewonnene Einsicht, dass ihre Vorfahren eine Kultur und Lebensweise hatten, die in vielen Aspekten denen der Eroberer überlegen war, ist deshalb für das Selbstverständnis der Campesinos sehr wichtig.
Zweites Beispiel: Interpretation des Schöpfungsberichts:
Die bisher verstandene Bedeutung – als Auftrag zur Beherrschung der Natur – führt zur Zerstörung, denn sie hat die ursprüngliche Aussage völlig falsch verstanden. Sie wurde vom griechisch-europäischen Denkmodell her verstanden und entsprechend übersetzt und gedeutet. Das europäische Denkmodell (Kosmovision) übersetzt etwa das hebräische Schlüsselwort „kabash“ („den Fuß draufsetzen“) entsprechend der eigenen Denkweise und Praxis mit „erobern und unterjochen“. Diese Deutung hat sich im 4. Jh. durchgesetzt und wurde später durch die Kolonialisierung globalisiert. Im hebräischen Denken – und damit in korrekter Übersetzung – bedeutet „kabash“ zum „Bereich Gottes gehörend“, allgemeiner: Die Schöpfung Gottes gehört nicht uns, den Menschen. Wir können nicht über sie verfügen, sie ist uns bestenfalls nur geliehen. Und das bedeutet im biblischen Denken: Wir müssen sie im Sinne des Eigentümers (Gott) gestalten: Im Dienste des Mitmenschen, besonders der Ausgegrenzten, in Beziehung mit den anderen Geschöpfen. Die Güter der Erde sind für alle Menschen bestimmt und der Zugang zu den Gütern der Erde (Wasser, Land, Früchte...) muss allen Menschen offen stehen, denn sie dienen dazu, dass alle Menschen in Würde leben können, als Kinder Gottes, als sein Ebenbild. Das schließt natürlich das Leben zukünftiger Generationen mit ein.
Eine vorderasiatische Kultur wurde demnach in die europäische Denkweise übersetzt und in ihr Gegenteil verkehrt. In der griech.-röm. Denkweise ist der Mensch der absolute Herrscher über die Natur, er darf sie rücksichtslos ausbeuten. Und wem dies am besten gelingt, der wird zum „Herrscher der Welt“.