Frage: Herr Kardinal, Herr Landesbischof, wer hatte am 5. September 2015 die Idee zur spontanen Stippvisite am Gleis?
Marx: Wir hatten uns an diesem Samstag getroffen, sprachen über die Lage, und dann hat Heinrich Bedford-Strohm gesagt: Wir könnten da jetzt eigentlich mal hingehen. Ich habe ihm schließlich zugestimmt. Da waren Menschen, die anderen in Not helfen wollten. Und wir sind hingegangen, um ihnen zu sagen: Gut, dass ihr da seid. Auch wenn wir danach Briefe bekommen haben, die nicht so angenehm waren – als Bischof möchte ich mich nicht dafür entschuldigen, dass ich Solidarität zeige und Menschen, die anderen helfen, unterstütze.
Bedford-Strohm: Die Menschen, die aus den Zügen gestiegen sind, waren wochenlang hin- und hergeschoben worden. In Deutschland, nach ihrer Ankunft am Münchner Hauptbahnhof, wurden sie von lauter offenen Armen empfangen. Ihre Gesichter werde ich nie vergessen: erst ungläubiges Staunen, dann Erleichterung und Freude, endlich einmal als Menschen behandelt zu werden und nicht als Gefahr oder Last. Das war ein großer Moment in unserer deutschen Geschichte. Der erste Satz des Grundgesetzes von der Unantastbarkeit der Würde des Menschen wurde mit Leben gefüllt. Darauf bin ich stolz. Dass es einfach werden würde, hat damals keiner behauptet.
Frage: Würden Sie heute wieder zum Hauptbahnhof gehen?
Beide: Auf jeden Fall.
Frage: Hat Angela Merkel mit ihrem Ausspruch Recht behalten?
Marx: Der Satz führt seit fünf Jahren fast so etwas wie ein Eigenleben. Stellt man ihn wieder in den damaligen Kontext, die dramatische Situation, dann spürt man, dass er absolut richtig war. Die Bundeskanzlerin wollte ja Mut machen, diese Herausforderung anzunehmen, die sich keiner ausgesucht hat. Wenn wir alle uns Mühe geben, dann können wir das schaffen – darum ging es.
Bedford-Strohm: Wer politische Verantwortung trägt, muss Zuversicht verbreiten und nicht Angst. Rückblickend lässt sich jedenfalls sagen: Die Integration in den Arbeitsmarkt ist erstaunlich gut gelungen. Rund die Hälfte der damals Gekommenen, also 500.000 Menschen, sind heute in Arbeit oder Ausbildung. Davon hätten viele vor fünf Jahren nicht zu träumen gewagt mit Blick auf die notwendigen Qualifikationen und Sprachkenntnisse.
Marx: Auch die von manchen Untertönen begleiteten Befürchtungen, dass die Kriminalitätsrate in Deutschland steigen würde, haben sich nicht bewahrheitet. Bedroht wird unser Gemeinwesen nicht von Migranten, sondern von Rechtsaußen. Das bestätigt der jüngste Verfassungsschutzbericht.